Die geheime Reise
hinauf, und als Frau Gordon die Kinder zum Gehen aufforderte, machte sie ein ganz gequältes Gesicht.
Den Nachmittag verbrachten sie am Meer und nach den langen Schlechtwetterwochen in der Stadt vertrieben die pralle Sonne, der strahlend blaue Himmel und die frische Nordseeluft auch jegliche Spuren schlechter Laune. Wanja spielte mit Thorsten und ein paar anderen Jungs Beachvolleyball, Sue und Britta spazierten eingehakt neben Frau Gordon über die Dünen, Tina starrte sehnsüchtig einer Gruppe von Reitern nach, die auf ihren Pferden am Meer entlanggaloppierten, und selbst Herr Schönhaupt hatte zum ersten Mal, seit Wanja ihn kannte, ein schmales Lächeln auf den Lippen, das nicht boshaft, gehässig oder zynisch wirkte.
Als die Klasse später beim Abendessen saß, schienen alle mit dem Ziel ihrer Reise versöhnt. Britta hatte ihren Platz mit Tina getauscht, sodass sie den Blonden im Blickfeld hatte. Alle paar Minuten huschte ein roter Schleier über ihre Wangen und sie fing wild zu kichern an.
Sue hatte sich einen Jungen am Nachbartisch ausgekuckt. Dunkle Locken umrahmten sein markantes Gesicht und seine langen Beine waren unter dem Tisch so weit ausgestreckt, dass der Junge gegenüber kaum Platz für seine Füße hatte. Als der Dunkelhaarige den Kopf in ihre Richtung drehte, lehnte sich Sue in ihrem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen von oben bis unten, worauf der Junge ebenfalls die Augenbrauen hochzog und Sue halb amüsiert, halb irritiert zulächelte. Fünfzehn, sechzehn war er bestimmt.
»Schade, dass wir nicht alle denselben Gemeinschaftsraum haben«, seufzte Sue, als sie später im Gemeinschaftsraum vor dem offenen Kamin zusammensaßen und Frau Gordon das Buch zur Seite legte, aus dem sie ihnen vorgelesen hatte. Britta, die bereits viermal in der letzten Stunde zur Toilette verschwunden war, nickte, und später im Bett, als Sue und Tina schon schliefen, beugte sie sich zu Wanja nach unten.
»Warst du schon mal verliebt?«, flüsterte sie.
Wanja schüttelte den Kopf. Im ersten Moment musste sie doch wieder an Mischa denken, an dieses intensive Gefühl, das sie für ihn empfand. Aber trotzdem … es war ganz eindeutig nicht das, was sich Wanja unter Verliebtsein vorstellte. Das Gefühl war warm, innig und vertraut, einer Freundschaft ähnlich, nur viel, viel tiefer. Es war ein Gefühl, wie sie es nie zuvor gekannt hatte, und sie wusste, dass es Mischa genauso erging.
»Und du?«, fragte sie Britta zurück. Ein Seufzen war die Antwort.
Am nächsten Tag stand ein Ausflug in ein historisches Städtchen auf dem Programm, sodass sie die Schüler der anderen Klassen nur beim Frühstück und Abendessen zu Gesicht bekamen. Für den Spaziergang durch den Ort hatte Herr Schönhaupt einen doppelseitigen Fragebogen ausgearbeitet, den er hinterher auswerten würde.
»Schließlich sind wir ja nicht zu unserem Vergnügen hier«, knurrte Sue und Wanja lachte, als Thorsten seinen Fragebogen zu einem Papierflieger faltete und ihn aus dem Fenster einer alten Mühle hinausschickte, über die sie auch etwas beantworten sollten. Doch als Herr Schönhaupt am Abend im Gemeinschaftszimmer noch ein Mathequiz vorschlug, griff Frau Gordon ein. »Die Zeit bis zum Schlafengehen gehört euch, vorausgesetzt, ihr haltet euch im Umkreis des Schullandheims auf und seid bis 22:00 Uhr zurück.«
Wanja machte mit Tina und einer Gruppe von Jungs aus ihrer Klasse einen Abendspaziergang zum Leuchtturm, während Sue und Britta im Haus herumlungerten, in der Hoffnung, dort auf die anderen Jungs zu treffen. Die waren jedoch mit ihrer Klasse ins Dorf gegangen, und als Wanja und Tina um kurz vor zehn mit roten Wangen in ihr Zimmer kamen, hockten Sue und Britta schlecht gelaunt auf ihren Betten und blätterten in Zeitschriften. Am Tag darauf fuhren sie mit dem Schulbus ins Seefahrtsmuseum, wo sich die Gesichter von Sue und Britta schlagartig aufhellten. Vor dem Museum parkte der andere Bus und eine halbe Stunde später steuerte der dunkelhaarige Junge die Miniaturnachbildung eines Frachters an. Davor stand Sue, in Warteposition.
Britta hielt sich dicht an der Seite von Wanja, strich unaufhörlich ihre Haare hinters Ohr und drehte sich alle zehn Sekunden nach dem Blonden um, der mit seinen Freunden neben dem Eingang an der Wand lehnte.
Wanja schlenderte auf die andere Seite des Raumes zu dem Porträt eines Kapitäns. Automatisch musste sie an den alten Saal hinter der Kunsthalle denken, an
Weitere Kostenlose Bücher