Die geheime Reise
lag, die Taro ihr am Boden gezeigt hatte.
Ja, sie war so weit. Taro klatschte in die Hände. Die Trommeln und Noaehs Stimme setzten ein. Wanja sprang, schwang ein paar Mal vor und zurück und ließ auf Taros Zuruf los. Taro fing sie auf, schwang mit ihr nach hinten – und drehte ihren Körper im Zurückschwingen mit aller Kraft herum. »Jetzt, Wanja, spring zurück.« Sie folgte, ohne nachzudenken. Ihr Körper drehte sich von ganz allein und Wanja flog durch die Luft, zurück zu ihrem eigenen Trapez. Gata schaukelte ihr die Stange entgegen und Wanja brauchte sie nur noch mit Händen zu greifen.
Als ihre Füße wieder auf dem Trittbrett standen, bebte sie vor Glück und konnte gleichzeitig kaum fassen, was sie hier tat.
Aber Taro ließ ihr keine Zeit, darüber nachzudenken. »Jetzt das Vogelnest. Erinnerst du dich?« Wanja nickte. Die Übung sah schwer aus, war aber ganz leicht, sie hatte sie sogar schon an ihrem eigenen Reck gemacht, ohne zu wissen, dass es eine Trapezdisziplin war. Und vorhin hatte ihr Taro gezeigt, worauf sie achten musste, wenn sie diese Übung in der Luft machte. Im Geist ging Wanja noch einmal jede seiner Anweisungen durch. Die Trapezstange mit den Händen umfassen. Abstoßen. Im Rückwärtsschwung die Beine anwinkeln und die Füße nach oben ziehen, bis die Fußriste gegen die Stange drücken. Dann, im Vorwärtsschwingen die Hüften durchdrücken und den Kopf ins Genick nehmen. Wenn die Schaukel ganz vorne ist, Taro anschauen – und auf seinen Zuruf die Hände loslassen. Mit gestreckten Armen nach vorne fallen.
Wanja gab Taro ein Zeichen, dass sie bereit war. Aber diesmal brauchte sie einige Anläufe und mehrere Pausen, bis es ihr gelang. In der Luft herrschten andere Gesetze als am Boden. Das Schwierigste war, den richtigen Zeitpunkt abzupassen, selbst wenn es schien, als ob Taro in ihrem Kopf säße und ihr jede Bewegung zurief. Einmal wäre Wanja fast abgerutscht, hielt sich aber im letzten Moment und ließ sich von Gata zurück zum Trittbrett ziehen, um auszuruhen.
Hier oben vereinten sich die Gegensätze. Man brauchte Leichtigkeit und Kraft, musste gleichzeitig locker lassen und den Körper auf Spannung halten. Aber nach einer ganzen Weile beherrschte Wanja das Vogelnest auch in der Luft und Taro klatschte zum letzten Mal in die Hände. »Gut Wanja. Jetzt musst du nur noch das Fallen lernen. Zieh die Beine hoch, mach deinen Rücken rund und lass dich fallen, bleib aber ganz locker, sodass du auf dem Po und den Oberschenkeln auf dem Netz aufkommst.«
Wanja hatte bereits losgelassen, machte sich rund und spürte den Wind an ihrem Körper entlangsausen, bevor sie weich und sicher im Netz landete, noch ein paar Mal nachfederte und schließlich liegen blieb, strahlend und glühend, die Arme weit ausgebreitet.
»Woher hast du gewusst, dass ich es schaffen würde?«, fragte sie Taro, als er ihr vom Netz herunter auf den Boden half.
Seine warmen Augen trafen ihre. »Weil ich dich kenne«, sagte er. »Hast du die Nummer im Kopf?«
Wanja nickte. »Erst der einfache Sprung, dann zurück an mein Trapez. Dann das Vogelnest und zurück an mein Trapez. Dann wieder schwingen, Beine hoch, Rücken rund und fallen lassen. Proben wir das nächste Mal wieder?«
»Das nächste Mal ist Generalprobe«, sagte Taro.
»Generalprobe?« Wanjas Augen weiteten sich.
»Ja. Aber wir haben alles geschafft, was wir brauchen. Du musst es nur hier behalten.« Taro legte seine Hand auf Wanjas Bauch. »Und hier.« Sein Finger zeigte auf ihre Stirnmitte. »Vielleicht hast du dort, wo du lebst, eine Möglichkeit, zu proben. Übe das Vogelnest, das kannst du an jeder normalen Stange tun. Bei allem anderen verlasse dich auf mich und auf deine Intuition. Du hast es im Blut, Wanja. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Diese Fähigkeiten sind ein Geschenk. Mach etwas aus ihnen!«
Wanja schluckte. Jo, Flora, Frau Gordon, alle drei Frauen hatten sie schon oft wegen ihres Schreibtalentes gelobt. Was Taro ihr sagte, hatte vorher noch niemand erkannt. Nicht einmal sie selbst.
Wanja nahm Taros Hände und hielt sie fest. Sie spürte etwas, ganz plötzlich war es da. Es war ein Gefühl von Abschied und dann fiel ihr wieder ein, was Taro bei ihrem letzten Besuchstag gesagt hatte, bevor sie zu Amon gegangen war. Sie hatte es verdrängt, aber jetzt schwappte eine Welle von Traurigkeit über sie hinweg, als hätten Taros Worte sie erst in diesem Moment wirklich erreicht.
Mischa kam auf die beiden zu. Er legte Wanja seine Hand auf die
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