Die geheime Sammlung
vorgeworfen hat, das weit unter seiner Würde liegt.
»Na ja, ich wollte dich nicht beschuldigen, aber … ich weiß nicht … Sie vertrauen mir, und ich habe dir geholfen, und ich wollte sichergehen …«
»Es tut mir leid – du hast ja recht. Es wirft ein schlechtes Licht auf mich. Aber ich würde nichts tun, was dem Repositorium schaden könnte. Ich gehöre hierher. Es ist so, als ob … nun, als wäre es ein Teil von mir.«
Er sah dabei so ernst aus, dass ich meine Zweifel beiseiteschob. »Okay. Es tut mir leid. Aber du musst mir trotzdem sagen, was los ist. Du hast mich in die Sache reingezogen, und deinetwegen war ich an einem ziemlich fiesen Ort eingesperrt. Das war nicht gerade schön. Du musst mir jetzt einfach sagen, weshalb.«
»Also gut. Ich hatte mir die Siebenmeilenstiefel ausgeliehen. Ich muss André bei meiner Tante in der Bronx abholen und ihn zum Kindergarten in Harlem bringen, und zwar zwischen dem Basketball-Training und der Arbeit. Mit der U-Bahn dauert das zwei Stunden. Mit den Stiefeln schaff ich das in null Komma nichts.«
»Das ist nicht dein Ernst – echte Siebenmeilenstiefel? Und du nimmst die statt der U-Bahn?«
Marc lächelte. »Ja – das macht viel mehr Spaß als U-Bahn fahren. Und wie ich schon sagte, schneller geht es auch. Man bleibt niemals auf freier Strecke stecken.«
»Aber das, das ist –
Magie!«
»Ja«, sagte Marc. »Magie. Man gewöhnt sich dran.«
Es war wohl dumm von mir gewesen zu glauben, dass Mr.Cool höchstpersönlich, Marc Merritt, sich über irgendetwas wundern könnte – nicht einmal über echte Magie. Ich zwang mich dazu, ebenfalls gelassen zu bleiben. »Und wie lang ist eine dieser Meilen?«
»Ungefähr viereinhalb Kilometer.«
»Also legt man mit jedem Schritt einunddreißigeinhalb Kilometer zurück? Selbst die Bronx ist nicht so weit weg.«
»Ja, das ist das Schwierige, ich muss kleine Schritte machen.«
Das hörte sich kompliziert an, aber wenn irgendjemand seine Füße unter Kontrolle hatte, dann war es Marc.
»Hast du keine Angst, dass André es irgendjemandem erzählen könnte?«
Er zuckte mit den Schultern. »Wer glaubt schon einem Dreijährigen, wenn er sagt, sein älterer Bruder könne fliegen?«
»Aber eines verstehe ich nicht: Wieso leihst du dir die Schuhe nicht ganz normal aus? Du hast doch besondere Leihrechte.«
Er nickte. »Das habe ich zu Anfang versucht, aber es gibt verrückte Auflagen für das Zeug aus dem Sammelsurium. Man darf es sich nicht häufiger als einmal im Monat ausleihen. Und man muss ein gewichtiges Pfand zurücklassen. Außerdem gibt es noch Säumniszuschläge.«
»Aber wieso musst du überhaupt André wegbringen? Wieso können das nicht deine Eltern machen?«
»Die sind beide beschäftigt«, sagte er schroff.
»Tut mir leid, ich wollte nicht …« Ich verstummte.
»Ist schon in Ordnung. Ich hätte dich nicht angiften sollen. Wir machen uns besser an die Arbeit. Kannst du nähen?« Er brachte mich zu einem Tisch, auf dem sich Kleidung stapelte.
Ich schüttelte den Kopf. »Das kann ich wirklich nicht gut.«
»Okay, dann wirst du es heute lernen müssen. Wir müssen uns durch diesen Stapel durcharbeiten, damit all das zurück in die Regale kommt.«
»Ist das aus dem Grimm-Sammelsurium?«
»Nö, das sind nur ganz normale unbezahlbare Schätze.«
Marc konnte überraschend gut nähen und war mit der Nadel fast so gut wie mit dem Basketball. Ich konnte nicht nähen, das stand fest – besonders nicht, weil mich ständig Gedanken an Magie und Marc Merritt ablenkten. Der Himmel verdunkelte sich und meine Hände waren zerstochen, als ich es endlich geschafft hatte, einen Riss in einer Tunika zu flicken.
Ich dachte an all die Frauen, die in Märchen bei der Handarbeit Schaden nahmen: Schneewittchens Mutter, die sich in den Finger stach und ihrer Tochter Lippen rot wie Blut wünschte. Dornröschen und ihre schicksalhafte Begegnung mit der Spindel. Und Rumpelstilzchens Opfer, das eingesperrt wurde und unmöglicherweise Stroh zu Gold spinnen sollte. Mehr als jemals zuvor fühlte ich mit ihnen.
»Zeig mal her«, sagte Marc schließlich, und ich gab ihm die Tunika. Er lachte. »Du hast nicht übertrieben, was? Nun, Übung macht den Meister.«
»Wo hast
du
überhaupt so gut nähen gelernt?«, wollte ich wissen.
»Am selben Ort, an dem auch du es lernen wirst. Alle Pagen müssen das lernen.«
»Ja, aber wer hat es dir beigebracht?«
Ein verträumtes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
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