Die geheime Stunde
Bruder. Er hoffte, dass es keinen Geliebten gab.
»Bring alles über die Familie in Erfahrung. Schalte die Polizei ein – am besten wendest du dich an Bill Manning. Wo hat die Vermisste gelebt?«
»Nicht in unserer Gegend. Sie stammt aus dem Süden, war nur zu Besuch in Neuengland.«
»Wo ist sie abgestiegen?«
»Als sie in Newport war, in irgendeinem Landgasthof; und hier im East Wind.«
»Felicity hat sich mit Sicherheit gut um sie gekümmert. In dieser Hinsicht dürfte es keine Probleme gegeben haben …«
John zuckte mit keiner Wimper, als sein Vater das Thema Barkley bewusst mied. Dass sein Vater von der Affäre seiner Frau mit einem seiner besten Freunde gewusst hatte, war eine Tatsache, die zwischen ihnen unausgesprochen blieb.
»Setz Billy darauf an.«
»Ich glaube, dass Greg Merrill sie umgebracht hat, Dad. Ich bin mir ziemlich sicher. Zeit und Ort stimmen überein, und sie passt in das Täterprofil.«
»Er hat sich nur zu den Morden an den sieben Frauen bekannt, die
an die Öffentlichkeit gelangten
und für die er verurteilt wurde.«
»Richtig.«
»Viele von uns Richtern sind der Meinung, das sei nur die Spitze des Eisbergs. Du musst dich nicht dazu äußern – das möchte ich auch gar nicht. Aber eine solche Bestie …«
John nickte. Der Gedanke war ihm auch schon gekommen. Greg hatte nur sieben Morde gestanden; er war gefasst worden, weil diese Opfer Familie hatten, Ehemänner, Menschen, die sich um sie sorgten. Was war mit den Frauen, die niemanden hatten? Prostituierte, junge Mädchen, die von zu Hause durchgebrannt waren … sogar Willa Harris war durch das Raster gefallen, weil sie sich zum Zeitpunkt des Verschwindens mit ihrer Schwester entzweit hatte.
»Sag nichts – ich möchte dich nicht in Versuchung führen, etwas auszuplaudern. Es gibt da nur einige Fragen, die bedacht sein wollen. Was ist mit seiner Handschrift? Stimmt sie in ihrem Fall auch?«
Jeder Serienmörder hinterließ eine ganz persönliche Handschrift, ein Zeichen, am Tatort, und John hatte niemandem – nicht einmal seinem Vater – erzählt, worin Merrills bestand. »Das kann ich nicht sagen. Ihre Leiche wurde nie gefunden.«
»Gut.« Sein Vater schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, dass sie auftaucht. Die Ungewissheit ist die Hölle für die Angehörigen. Weil man sich immer wieder vorstellt, welche grauenvollen Dinge passiert sein
könnten.
Und kein Grab hat, das man besuchen kann.«
Wieder stellte sich John die Prozession der portugiesischen Fischer und ihrer Familien vor, die Kerzen in den Händen trugen und Hymnen in der dunklen, kalten Nacht sangen, um ihre Toten auf dem kleinen Gemeindefriedhof zu ehren. Das Bild war herzzerreißend gewesen, aber auch irgendwie friedvoll.
Es hatte dazu geführt, dass er Kate küsste.
Und wieder kamen sie und brachen sich ihre Bahn: die Gedanken, die Gefühle, die Sehnsucht. Während er in seinem Büro saß und sich mit seinem Vater, der ihm gegenüber an dem breiten Schreibtisch saß, über berufliche Entgleisungen und die Handschrift von Serienmördern unterhielt, kreisten seine Gedanken nur noch um Kate Harris. Er dachte daran, wo sie in diesem Augenblick sein mochte, was es für ein Gefühl gewesen war, sie in seinen Armen zu halten.
Er hoffte inständig, dass es keinen Mann in ihrem Leben gab, den sie liebte. Er wünschte, er könnte dazu beitragen, dass sie den Schmerz vergaß. Er wusste, was sie mit ihrem Mann durchgemacht haben musste. Er hätte die Vergangenheit gerne ungeschehen gemacht, ihr den Kummer erspart, zu wissen oder nicht zu wissen, was ihrer Schwester widerfahren war. Was Merrill Willa vermutlich angetan hatte. Ihr das zu ersparen war sein größter Wunsch.
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15
A n diesem Abend hatte John eine Telefonkonferenz zu Hause anberaumt – genauer gesagt, im Haus seines Vaters. Er hatte unlängst nicht viel Zeit für Maggie und Teddy gehabt, und obwohl die Besprechung mit Dr. Beckwith wichtig war, gefiel ihm der Gedanke nicht, wieder einmal Überstunden im Büro zu machen.
Ironischerweise war er der Einzige, der zu Hause war. Teddy hatte am Nachmittag irgendeine Sportveranstaltung, Maggie hatte eine Nachricht hinterlassen, dass sie eine Fahrradtour machen wolle, und sein Vater hatte Maeve – wie John belustigt las – ins Clam Shanty zum Muschelessen eingeladen, damit sie ausnahmsweise nicht kochen musste.
John beschloss, ein Rindergulasch zu machen. Das war – neben einem scharfen Chili – seine Spezialität. Er hatte das Rezept von
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