Die geheime Stunde
Frau?«
John nickte. »Die Schwester einer jungen Frau, die vermisst wird. Seit sechs Monaten …«
»Eine lange Zeit«, sagte sein Vater mitfühlend. »Sehr lange, um sich den Kopf zu zermartern.«
»Ja. Fand ich auch.«
»Und was genau hast du gemacht?«
»Wir haben uns getroffen. In Fairhaven, Massachusetts – zufällig. Eine seltsame Fügung. Sie gab mir einen Tipp, der mich bewog, Greg Merrill nach einem bestimmten Ort zu fragen, an dem er war, der aber nicht in den Akten vermerkt ist – eine Geschichte, die nie an die Öffentlichkeit drang. Ich fuhr hin, um sie zu überprüfen …«
»Und diese Frau auch.«
»Richtig. Ihre Schwester war ebenfalls dort, ungefähr zur gleichen Zeit, wie es scheint.« John schloss die Augen und sah das Fenster des Mädchens, die Lichterprozession und Kates Flussaugen vor sich. Er spürte wieder den Kuss – das Gefühl war stärker als er. Es erfüllte sein ganzes Denken, weckte in ihm den Wunsch, sie möge in diesem Moment bei ihm sein, damit er sie erneut küssen konnte. Er zuckte zusammen, was sein Vater natürlich sah. »Ich musste es ihr einfach sagen. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, sie noch länger im Ungewissen zu lassen.«
»Deine Reaktion zeugt von menschlicher Größe.«
»Findest du?«
»Ja, aber damit bist du nicht aus dem Schneider. Du würdest
noch mehr
menschliche Größe beweisen, wenn du jederzeit die Interessen deines Mandanten berücksichtigst – in angemessener Form. Nein, mehr als angemessen. Nach besten Kräften. Ohne auch nur den Hauch einer Unkorrektheit.«
»Was ich getan habe, war im höchsten Maß unkorrekt.« Das war eine Feststellung, keine Frage.
»Absolut.«
»Was soll ich jetzt machen, Dad?«
Sein Vater strich sich nachdenklich über das Kinn. »Keine Ahnung.«
»Hast du jemals mit Mom über deine Fälle gesprochen?«, hörte John sich fragen.
Sein Vater blickte ihn an, als sei er entrüstet. »Natürlich. Das Ehegelübde hat Vorrang vor allen anderen in meinem persönlichen Kodex. Hast du dich mit Theresa nie darüber unterhalten?«
Johns Schultern spannten sich ein wenig, und er zwang sich, eine unbefangene Miene aufzusetzen. Seine Ehe war ein Thema, über das er nie sprach, nicht einmal mit seinem Dad; er konnte es seit ihrem Tod nicht ertragen, daran zu rühren. Der Schmerz erlosch nie – und auch nicht das Gefühl der Scham. »Nicht wirklich«, sagte er.
»Warum dann die Frage? Vertraust du dich dieser Frau häufig an?«
»Nein.« Johns Blick fiel auf Maggies Brief.
»Wer ist sie überhaupt?«
»Niemand, Dad.« Johns Herz raste, als er Kates Namen ansah und sich daran erinnerte, was er dabei empfunden hatte, als er sie in den Armen hielt. »Niemand von Bedeutung. Und, was soll ich jetzt machen?«
»Zuallererst dafür sorgen, dass so etwas nie wieder vorkommt.«
»Das passiert mir gewiss nicht noch einmal. Dessen bin ich mir sicher.«
»Gut. Und dann solltest du die Motive für dein Verhalten unter die Lupe nehmen – wie ich deinen Worten entnehmen konnte, hattest du ja keine niederen Beweggründe. Du könntest in Betracht ziehen, der Anwaltskammer selber Meldung zu machen, dich auf Gedeih und Verderb dem Untersuchungsausschuss auszuliefern.«
»Dem ich angehöre«, sagte John und verspürte Selbstekel.
»Richtig. Du könntest natürlich auch, nach reiflicher Überlegung und gründlicher Gewissenserforschung, das Für und Wider abwägen und zu der Entscheidung gelangen, deine Karriere nicht zu zerstören. Du könntest – und das ist der wichtigste Punkt – beschließen, Maggie und Teddy nicht der finanziellen Mittel zu berauben, die sie brauchen, um das College zu besuchen und Jura zu studieren. Dann könntest du dir einen gehörigen Tritt in den Arsch verpassen, dich auf das Übelste beschimpfen und feierlich geloben, dir so etwas nie wieder zuschulden kommen zu lassen.«
»Danke, Dad.« John hatte das Gefühl, als sei ihm eine schwere Bürde von den Schultern genommen worden, und ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus.
»Die Schwester dieser Frau – hat Merrill sie umgebracht?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wie willst du der Sache auf den Grund gehen?«
»Keine Ahnung, aber ich arbeite daran.«
»Du solltest unbedingt noch andere grundlegende Ermittlungen anstellen. Die Schwester der Vermissten – hat sie einen Ehemann? Einen Geliebten? Einen Bruder?«
»Mindestens zwei von drei Fragen kann ich schon jetzt mit Ja beantworten.« John dachte an Kates Ex-Ehemann und ihren
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