Die geheime Stunde
Kates Namen wühlte John innerlich auf. Er wusste, dass dabei Schuldgefühle im Spiel waren, die an Verfolgungswahn grenzten: Er rechnete jeden Augenblick mit einem Anruf aus dem Dezernat für Kapitalverbrechen der Connecticut State Police, in dem man ihm mitteilte, es sei der Hinweis einer Frau eingegangen, dass sein Mandant mit dem Verschwinden ihrer seit langem vermissten Schwester zu tun haben konnte.
Aber der innere Aufruhr, in dem er sich befand, enthielt noch andere Elemente – die sich nicht auf Schuldgefühle gleich welcher Art zurückführen ließen. John konnte den Kuss nicht vergessen. Er war erfüllt und geradezu besessen von der Erinnerung, wie ein junger Bursche, der zum ersten Mal ein Mädchen im Arm gehalten hatte. Das Bild ging ihm nicht mehr aus dem Kopf: der dunkle Parkplatz, das Licht in Kates Augen, das Wissen, dass sie einer Familie geholfen hatten, ihr Kind besser zu schützen, das Verlangen nach ihr, das ihn wie der Blitz getroffen hatte …
Es war verrückt, aber er konnte nichts dagegen tun.
Gestern, als er Merrill und Phil Beckwith gegenübergesessen hatte, waren seine Gedanken ebenfalls abgeschweift – zu Kate und dem Kuss. Merrill hatte etwas gesagt, es wiederholt, nicht nur einmal, sondern gleich zweimal. Dann hatte er mit einem Lächeln gemeint: »Es hat Sie offenbar erwischt, John!«
»Was, Greg?«
»Der Fluch … oder das Geschenk des Himmels, wie man’s nimmt …«
»Was für ein Fluch? Was für ein Geschenk?«
»Die Besessenheit … Sie haben eine Frau kennen gelernt. Gestehen Sie, John. Weihen Sie mich zur Abwechslung einmal in Ihre Geheimnisse ein. Sie sind verliebt! Ich sehe es in Ihren Augen.«
»Ich bin nur müde, Greg«, hatte John erwidert und seine Brille heruntergeschoben, um sich den Nasenrücken zu reiben. Er bemühte sich, einen Anflug von Panik zu unterdrücken, der ihn angesichts der Erkenntnis überkam, dass Merrill jede Kleinigkeit wahrnahm und das Recht zu haben glaubte, John auf seine Gefühle für Kate ansprechen zu dürfen. »Überarbeitet.«
Merrill hatte den Kopf geschüttelt, ließ sich nicht von seiner Meinung abbringen, sein Lächeln vertiefte sich. Er hatte auf die Tischplatte getrommelt, um die Aufmerksamkeit des Psychiaters auf sich zu lenken. »Besessenheit, Doktor: Habe ich Recht? Schauen Sie sich seine Augen an, erkennen Sie die Symptome?«
»Sie sind heute Gegenstand meiner Untersuchung, Mr. Merrill«, hatte Dr. Beckwith trocken geantwortet, ohne John eines Blickes zu würdigen. »Nicht Ihr Anwalt.«
»Der HERR weist uns den Weg in seiner grenzenlosen Güte!« Merrill warf den Kopf zurück, aberwitzig aufgekratzt. »Ob wir wollen oder nicht … Der HERR benutzt mich als Werkzeug, um John den Weg zu weisen, und umgekehrt. Wir sind alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Unsere Herzen schlagen im gleichen Takt, Dr. Beckwith. Besessenheit ist nur eine andere Bezeichnung für Liebe.«
»Lassen Sie uns weitermachen«, hatte John eingeworfen, mit brennendem Nacken und einem flauen Gefühl im Magen, weil ihm klar war, dass Greg Recht hatte – er konnte Kates Kuss nicht aus seinen Gedanken verbannen, nicht in einmal hier, im Winterham Prison.
»Also, Mr. Merrill, sind Sie bereit, heute eine gute Tat zu vollbringen?« Dr. Beckwith hatte das Wort ergriffen, ungerührt und weltgewandt, während er sich lächelnd nach vorne beugte.
»Ja, ich bin bereit …«
»Dann lassen Sie uns anfangen, am besten mit … Anne-Marie Hicks«, sagte der Doktor mit einem Blick auf seine Notizen. »Erzählen Sie mir bitte, wie es kam, dass Sie ihr begegnet sind … und was dann geschah …«
John war aufgestanden und schickte sich zum Gehen an, um seinen Mandanten mit der namhaften Koryphäe allein zu lassen, dem wichtigsten Hoffnungsträger für seine Verteidigungsstrategie, die sich auf Unzurechnungsfähigkeit stützte. Beckwith hatte schon einige von Johns Mandanten herausgepaukt und wahre Wunder vollbracht – und Merrill war wirklich ein Bilderbuchkandidat für sein Fachgebiet.
Als John nun, einen Tag danach, auf Maggies Briefumschlag in der Ablage für den Postausgang starrte, spukte ihm der Gedanke an Kates Lippen auf seinem Mund immer noch im Kopf herum.
»Tag, Counselor«, drang eine barsche Stimme von der Tür seines Büros an sein Ohr.
»Hallo, Dad.« John erhob sich rasch, um seinen Vater mit Handschlag zu begrüßen. »Hereinspaziert. Was führt dich in die Stadt?«
»Musste kurz in die Apotheke, um was für
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