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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Kopf ging, gefror ihr das Blut in den Adern.
    »Wir sind gleich da.« Kate lief weiter, trug ihre Schwester den nächsten Treppenabsatz hinab.
    Nur noch eineinhalb Stockwerke bis unten. Ihre Arme begannen zu kribbeln, als wollte ihr Körper signalisieren, dass es höchste Zeit war, ihre Last abzusetzen. Ihre Muskeln schmerzten, brannten wie Feuer unter dem Gewicht, und ihre Lippen fühlten sich taub an, als sei das ganze Blut in Arme und Beine geströmt.
    »Ich hätte nie für möglich gehalten, dass mich jemand rettet.« Willas Stimme brach. »Ich dachte, ich müsste hier drinnen sterben.«
    »Niemals«, versprach Kate. »Ich bringe dich raus.«
    Auf dem untersten Treppenabsatz angekommen, bückte sie sich, um ihre Schwester auf den Stufen abzusetzen. Sie wollte nur die Tür in Augenschein nehmen, aber Willa klammerte sich so heftig an sie, dass sie fast vornübergekippt wäre.
    »Bitte geh nicht weg!«, flehte sie.
    »Nur für zehn Sekunden. Während ich nachschaue, wie wir hier rauskommen …«
    Willa sank auf der Treppe zusammen, zu schwach, um zu protestieren. Kate rannte zur Tür. Drei senkrecht verlaufende Sperrvorrichtungen, zwei Schließriegel ohne Feder eingeschlossen. Keine mit Schnäpper; zum Öffnen – von innen oder außen – waren Schlüssel erforderlich, und die Tür war massiv und neu.
    Sie zog die Metallstrebe aus ihrem Hosenbund, schwang sie wie einen Degen und lächelte Willa aufmunternd zu.
    »Du würdest einen guten Piraten abgeben«, krächzte Willa, das Lächeln erwidernd.
    »Ich bringe uns trotzdem lieber hier raus«, sagte Kate und versuchte, das flache Ende der Strebe zwischen Tür und Rahmen zu schieben.
    In dem Augenblick drehte sich, wie von Zauberhand, eine der Sperrvorrichtungen. Dann die zweite – das Geräusch von Metall auf Metall tönte laut in ihren Ohren –, als die Tür von außen geöffnet wurde. Sie wirbelte herum, wollte ihre Schwester warnen, als ihr bewusst wurde, dass es Punkt neun Uhr sein musste und ihr Entführer vor der Tür stand, zur gewohnten Zeit.
    Willa sah aus wie ein Gespenst.
    Leichenblass, mit leblosen Augen, kauerte sie auf der schmiedeeisernen Wendeltreppe und klammerte sich an das Geländer, den Blick starr auf die Tür gerichtet. Kate wollte zu ihr laufen, mit ihr zum Brunnenschacht fliehen, aber es war zu spät. Sie hörte den Schlüssel im letzten Schloss.
    Sie legte den Finger an die Lippen, bedeutete Willa, keinen Laut von sich zu geben, obwohl sie wusste, dass die Warnung überflüssig war. Ihre Schwester war zur Salzsäule erstarrt, hatte tödliche Angst, wie er reagieren würde, wenn er sie und Kate hier unten fand.
    Die Tür ging einen Spaltbreit auf, ließ einen Schwall kalter, frischer Luft herein. Kate atmete tief durch; ihr Verstand arbeitete mit einem Mal völlig klar, als sie sich hinter die Tür stellte. Sie sah, wie Willa ihre Augen schloss, sich in ihr Schicksal ergab.
    Der Mann trat ein. Er hatte braunes Haar, war mindestens einen Meter achtzig groß, hoch aufgeschossen und muskulös, und ungefähr eine Armeslänge von Kate entfernt. Als sein Blick auf Willa fiel, blieb er wie angewurzelt stehen, die Hand auf dem Türknauf, rasend vor Wut.
    »Wie bist DU hierher gekommen?«, schrie er. Kate konnte sich vorstellen, wie er fieberhaft seine Vorsichtsmaßnahmen durchging und zu dem Schluss kam, dass Willa unmöglich auf eigene Faust nach unten gelangt sein konnte. Seine Schultern strafften sich, wie aufgepumpt, und in dem Augenblick, als er herumwirbelte, um einen Blick hinter die Tür zu werfen, stürzte sich Kate mit einem gellenden Schrei auf ihn und schlug mit der rostigen Eisenstrebe zu, ihre ganze Kraft aufbietend.
    Sie traf ihn mitten ins Gesicht, mitten zwischen die Augen, erwischte Knochen, Muskelgewebe und Blut – viel Blut. Der Mann brüllte auf und taumelte rückwärts, unkenntlich durch das Blut und die Hände, die er schützend vor sein Gesicht hielt; er stolperte, verlor das Gleichgewicht und stützte zu Boden, in Richtung der Treppe, auf der Willa kauerte.
    »Du hast meine Schwester entführt und verletzt!«, schrie sie und holte erneut zum Schlag aus. »Dafür BRINGE ICH DICH UM !«
    Die Metallstrebe traf abermals, und noch einmal, und schließlich brach der Entführer reglos vor Willas Füßen zusammen, wie ein getöteter Drache. Willa kroch auf allen vieren von ihm weg, und Kate trat näher.
    Ihr Herz raste. War er tot? Sie hatte keine Ahnung, und es war ihr im Grunde egal. Sie wusste nur eines: Sie würde

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