Die geheime Stunde
Linsen …«
Kate verschwendete keine Sekunde. Sie rannte die letzten Stufen hinauf, auf die schmale Plattform, die rings um das Leuchtfeuer verlief. Es war ein Fresnel-Glasprisma, glänzend und funkelnd, das den Lichtstrahl tausendfach brach, ihn in Regenbögen aufsplitterte und aufs Meer hinauswarf. Kate würdigte es kaum eines Blickes. Sie lief um die Apparatur herum, kam zu der Öffnung in der eisernen Wendeltreppe und spähte hinab.
Eine Falltür.
Sie war mit zwei Metallscharnieren in die Oberseite des Verschlags eingelassen und mit einer Haspe mit Vorhängeschloss gesichert. Mit der Hand um Maggies Messer sah sie, dass es dieses Mal nicht so leicht sein würde: Die anderen beiden Schlösser, die sie aufgebrochen hatte, waren uralt gewesen, vermutlich um die zweihundert Jahre, und durchgerostet. Diese Beschläge waren neu, robust und aus rostfreiem Stahl.
Dennoch machte sie sich mit Maggies Messer ans Werk, bohrte damit im Holz. Wäre die Fensterscheibe nicht zerbrochen, hätte niemand Willa gehört: Aus der Nähe sah sie, dass die Wände des Turms aus Ziegeln und Gusseisen bestanden.
»Halt durch, Willa! Ich bin in einer Minute bei dir!«
»Beeil dich, Katy!«
Das Schloss gab nicht nach. Einmal rutschte das Messer ab, bohrte sich in ihre Hand; sie schüttelte es ab. Willa keuchte – Kate hörte es durch das Holz, und das Geräusch ihres rasselnden Atems verstärkte ihre Angst.
»So geht es nicht.« Kate gab den Versuch mit dem Messer auf. Wenn sie ihr Handy nur nicht im Auto gelassen hätte, wenn sie nur John anrufen und Hilfe holen könnte. Aber das konnte sie vergessen, und so schaute sie sich um, auf der Suche nach einem besseren Werkzeug als einem kleinen Messer.
»Lass mich nicht alleine!«, schrie Willa, als Kate über die Plattform zum Leuchtfeuer eilte.
»Niemals!«, versprach Kate.
Die Linsen waren zum Teil von einem Metallkäfig umschlossen. Die obere Hälfte des Käfigs war offen, die untere aus dem gleichen alten Eisen wie die Treppensprossen im Geheimgang gefertigt. Das Licht blendete sie mit jedem Aufblitzen, aber Kate bekam eine der halbrunden Streben zu fassen. Beinahe wie ein Korb geflochten, waren sie in der Mitte nahezu durchgerostet und nur an den Enden fest verankert.
Eine Strebe in der Mitte packend, zerrte Kate mit aller Kraft daran. Sie bewegte sie vor und zurück, drückte und zog, bis das Metall nachgab und ein etwa fünfzig Zentimeter langes Stück am Bolzen abbrach. Die Strebe in der Hand, lief sie zur Tür des Verschlags und klemmte das dünne Ende unter die Haspe.
Es war ein perfektes Brecheisen, und während sie es mit voller Wucht vor und zurück bewegte, spürte sie, wie eine geradezu übermenschliche Stärke Besitz von ihr ergriff. Ihre Schwester war in dem Verschlag, und sie würde sie herausholen, KOSTE ES , WAS ES WOLLE . Vor Anstrengung keuchend, holte sie zu einem letzten, gewaltigen Schlag aus, und Schloss und Holz zersplitterten.
Willa weinte, drückte von der Innenseite gegen die Tür. Kate zerrte am Schloss, riss es von der Tür, mit Scharnieren und allem, was dazugehörte, legte es neben sich.
Gelbe Augen in der Dunkelheit, wie eine Eule in ihrem Schlupfloch, ein Fuchs in seinem Bau. Die Gestalt zitterte, war in Lumpen gekleidet. Großer Gott: eine Gefangene im finsteren Verlies.
Beim Anblick ihrer Schwester entrang sich Kate ein Schrei. Er gellte in ihren Ohren, als sie hinuntersah, Willas Blick erwiderte. Tausend Fragen, aber Kate schenkte ihnen keine Beachtung. Sie streckte die Hand aus, in die Dunkelheit, spürte, wie Willa nach ihren Armen griff, zu schwach, um sich daran festzuhalten. Mit ungeahnter Kraft umfasste Kate den Oberkörper ihrer Schwester, während ihr Tränen über die Wangen liefen.
»Ich ziehe dich jetzt hoch«, sagte Kate. »Wir schaffen es, wenn wir uns beide aneinander festhalten.«
»Lass mich nicht los«, flehte Willa.
»Nein.« Kates Stimme war rau angesichts des Wissens, dass sie ihre Schwester in den Armen hielt.
In dem Moment wurde ihr bewusst, dass es nichts gab, was ihr so viel bedeutete wie Willas Anblick, und sie hielt ihr Versprechen: Sie hielt sie fest, ließ nicht los. Draußen pfiff leise der Wind um den Leuchtturm, der Sturm hatte nachgelassen, und man hörte die Brandung am Strand. Die Geräusche übertönten das leise Schluchzen der Schwestern, als Kate Willa auf die Plattform hochzog, in Sicherheit.
»Schaffst du es nach unten?« Kate stützte Willa, spürte ihren dünnen Arm um den Hals, den mageren
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