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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Scharnier zerbrach. Als sie die große Holztür endlich aufgestemmt hatte, fand sie sich in einem kleinen Vorraum wieder. Licht strömte herein: das grelle Aufzucken des Signalfeuers, das kam und ging. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr – zwanzig nach acht. Nicht einmal fünfzehn Minuten waren vergangen, seit sie Willas Stimme im Wind gehört hatte.
    Als sie weiterging und die nächste, diesmal unverschlossene Tür öffnete, stand sie in der Mitte des Leuchtturms, der aus einem einzigen, großen offenen Raum bestand. Die Fensterreihe zog sich zu ihrer Linken nach oben; eine eiserne Wendeltreppe wand sich wie eine Spirale durch das zylindrische Innere des Turms nach oben. Auf dem Fußboden lagen weitere Splitter der zerbrochenen Fensterscheibe. Als sie den Kopf in den Nacken legte, konnte sie bis zur Spitze des Turmes, bis zu den Fresnel-Linsen und dem Leuchtfeuer sehen.
    Von Willa weit und breit keine Spur.
    Kate blickte sich verzweifelt um. Es war die Stimme ihrer Schwester gewesen, dessen war sie sich sicher. Genau wie damals in Chincoteague, getragen vom Wind, über die Dünen, die Bäume und das Wasser. Damals war sie die Einzige auf der Insel gewesen, hatte die Stimme ihrer Schwester erkannt, und sie hätte
geschworen
, dass sie sich auch heute Abend nicht täuschte, dass sie die Stimme durch das zerborstene Fenster gehört hatte.
    Sie hatte tief in ihrem Inneren gewusst, dass ihre Schwester hier sein musste, im Leuchtturm. Es konnte doch nicht sein, dass sie sich das Ganze eingebildet hatte! Dass die Stimme eine reine Wunschvorstellung war, weil sie ihre Schwester so sehr vermisste – oder doch?
    Aber Willa war irgendwann in der Nähe gewesen … der goldene Flugzeuganhänger war der Beweis.
    Vielleicht hatte der Sturm eine Sinnestäuschung bewirkt und ihr vorgegaukelt, die Stimme sei aus dem Turm gekommen – vielleicht war sie anderswo, nicht weit vom Leuchtturm entfernt, von einem Schuppen oder einer Scheune hergekommen, die sie übersehen hatte. Sie stürzte zur Tür.
    »Willa? Willa, wo bist du?«, schrie sie.
    Die Antwort kam von oben, ein Schrei, fassungslos vor Freude.
    »Katy?«
    »Willa!«, schrie Kate, und ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf.
    »Endlich, endlich! Hier bin ich, Katy!«, drang Willas Stimme an ihr Ohr, noch gedämpft, aber schon wesentlich deutlicher als zuvor. »Hier!«
    »Wo, Willa?«
    »Hier oben!« Willas Stimme überschlug sich, einer Hysterie nahe. » Beeil dich, Katy – er kommt!«
    Kate legte den Kopf in den Nacken, starrte hinauf. Es gab nur eine Möglichkeit: Sie musste unweit der Linsen sein. Sie rannte die schmale Wendeltreppe hinauf. Ihr Bein war aufgeschürft und blutete, aber sie bemerkte es nicht. Die Metallstufen klirrten unter ihren Füßen, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Die Luft war eisig und roch nach Salz und Rost.
    Als sie sechs der acht Stockwerke erklommen hatte und nach oben zu den anderen zwei spähte, entdeckte sie die kreisförmige Plattform rund um die Linsen, aber keine Spur von ihrer Schwester. Sie runzelte die Stirn – eigentlich hätte sie Willa jetzt sehen müssen. Das Signalfeuer blitzte grell über ihr auf, blendete sie und zwang sie, ihre Augen abzuschirmen.
    »Willa – wo bist du?«
    »Hier, Katy!« Die Stimme schien jetzt ganz aus der Nähe zu kommen.
    Sie ging langsamer, ihre Beine brannten wie Feuer von dem steilen Aufstieg, dann roch sie frisch geschlagenes Holz. Als sie nach unter sah, entdeckte sie verklumpte, nasse Sägespäne auf den Stufen. Dann blickte sie nach oben … da! Kaum erkennbar in dem engen, überschatteten Abschnitt des Turms, direkt unterhalb der Linsen, befand sich ein kleiner Holzverschlag.
    Er war mit Holzblöcken in den undurchdringlichen Wänden des Leuchtturms verkeilt, eingeklemmt zwischen der Plattform und der Wendeltreppe, und hatte in etwa die Größe eines Schuppens, in dem man Gartengeräte verstaute. Er war weiß gestrichen und verschmolz fast mit seiner Umgebung. Als Kate sich ihm von der Treppe aus näherte, konnte sie keine Möglichkeit ausmachen, wie man hineingelangte.
    »Willa.« Sie berührte das Holz. »Wo ist der Eingang?«
    »Bist du da?« Willa brach in Schluchzen aus, klopfte von innen gegen den Verschlag. »O, Katy, hol mich hier raus! Beeil dich, er muss jeden Moment kommen. Wir haben keine Zeit …«
    »Ich weiß nicht wie!« Kate tastete den Verschlag ab, hämmerte gegen die Seiten, suchte fieberhaft nach einem Zugang. »Wo ist die Tür?«
    »Oben. Zwischen den

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