Die geheime Stunde
Körper, den jeder Atemzug anzustrengen und unerträglich zu schmerzen schien.
»Meine Beine«, ächzte Willa. »Ich habe sie so lange nicht mehr bewegt …«
Kate blickte auf Willas Beine, spindeldürr wie die eines neugeborenen Fohlens nach der langen Zeit im Verschlag. Von Rührung übermannt, zog Kate ihren Mantel aus – noch nass vom Sturz in den Brunnenschacht –,und legte ihn ihr um die Schultern. Sie kniete sich neben sie und begann, Willas Beine und Knöchel zu massieren. Willa schrie bei der leisesten Berührung auf.
»Ich schaffe es nicht bis nach unten.«
»Doch.« Kate massierte weiter, versuchte sich zu konzentrieren. Ihr schwindelte bei dem Gedanken an Willas Worte: »Beeil dich, er kommt …« Sie wusste weder, wer gemeint war, noch wo oder wann, aber sie spürte die Todesangst ihrer Schwester und wusste, dass sie nicht auf Einbildung beruhte. »Du schaffst es.«
»Ich möchte ja, aber ich kann nicht!«, jammerte Willa, frustriert über ihre eigene Schwäche.
»Ich werde dich tragen. So wie früher, als du klein warst.«
Die Schwestern sahen nach unten – acht Stockwerke über eine schmale Wendeltreppe. Willa schüttelte den Kopf, schluchzte auf. »Das schaffst du nicht.«
Kate ersparte sich die Mühe zu antworten. Sie wickelte den Mantel enger um ihre Schwester. Der Geruch, der ihr nach der langen Zeit im Verschlag anhaftete, war grauenvoll, aber Kate hatte die Windeln ihrer Schwester gewechselt. Er machte ihr nichts aus.
Vorsichtig verstaute sie Maggies Messer in der Vordertasche ihrer Jeans. Die Metallstrebe wie ein Schwert in den rückwärtigen Hosenbund schiebend, ging sie neben ihrer Schwester in die Hocke.
»Leg die Arme um meinen Hals, wenn du kannst«, sagte sie und hob Willa hoch.
Willa versuchte es, aber ihre Arme waren zu schwach und zitterten. Kate wusste, es spielte keine Rolle. Sie hielt ihre Schwester auf den Armen, würde sie nicht fallen lassen. Sie stieg die erste Stufe hinab, dann die zweite. Ihre Beine waren stark, ihre Arme voller Kraft. Die Liebe, die sie miteinander verband, war wie ein magnetischer Kreis, stählte sie mit jedem Schritt. Sie dachte an Amelia, an John, Teddy und Maggie, und der Gedanke verlieh ihr zusätzliche Stärke.
Ein Stockwerk, zwei Stockwerke. Sie eilte die Stufen hinunter, trittsicher, zuversichtlich; sie würden es schaffen. Ihre Gedanken überschlugen sich, planten den nächsten Schritt. Sie hatte die Brechstange bei sich, die ihr schon einmal gute Dienste geleistet hatte. Falls sich die Tür des Leuchtturms ohne Schwierigkeiten von innen öffnen ließ, würde sie Willa nach draußen tragen, in den Wagen des Richters setzen und mit ihr ins Krankenhaus fahren.
Wenn nicht, würde sie ihre Schwester durch den Geheimgang hinausschaffen, in den Brunnenschacht. Sie würde einen Weg finden hochzuklettern – notfalls mit der Brechstange Stufen in die Wände schlagen.
»Wie spät ist es?«, fragte Willa mit schwacher, bebender Stimme.
»Ich kann meine Uhr nicht sehen. Aber ungefähr viertel vor neun, denke ich. Mach dir keine Sorgen, wir sind fast unten …«
»Er kommt um neun«, rief Willa gehetzt. »Er sagt, das sei
seine
Zeit, seine geheime Stunde …«
»Seine was?« Kates Brust schmerzte vor Anstrengung.
»Die Zeit, in der ihn niemand vermisst; wo ihn niemand hierher kommen sieht …«
Kate lief schneller. Willa wurde in ihren Armen durchgerüttelt, schrie vor Schmerzen auf. Sie gerieten aus dem Gleichgewicht, wären beide um ein Haar gefallen. Kate lehnte sich an das schmale schwarze Geländer, um die Balance wiederzugewinnen, und ihr Blick schweifte nach oben, zum Verschlag.
Er war im Wechsel von Schatten und Licht verborgen, fügte sich nahtlos in die Eingeweide von Linsen und Leuchtfeuer ein, so gut getarnt, dass man ihn mit bloßem Auge kaum erkennen konnte. Ihr Herz begann zu hämmern; sie wusste, dass eine unbekannte Gefahr von ihm ausging, ob man sie sah oder nicht.
»Er hat den Verschlag gebaut«, sagte Willa, Kates Blick folgend, als könnte sie ihre Gedanken lesen. »Um mich einzusperren …«
»Was hat er …«, begann Kate, doch dann verstummte sie. Dafür würde später noch genug Zeit sein. Die Uhr tickte unerbittlich, sie musste Willa in Sicherheit bringen.
Es hörte sich an, als käme die Brandung immer näher. Das Tosen war ohrenbetäubend, als hätte der Sturm eine gewaltige, todbringende Sturmflut ausgelöst, die bis zur Klippe hinauf reichte. Bei dem Gedanken an Merrill, der ihr spontan durch den
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