Die geheime Stunde
dass Willa schon als kleines Mädchen unter der Dusche gesungen hatte, mit einer überschwänglichen Stimme, die durch das ganze Haus hallte, das an dem Gezeitenfluss zwischen Insel und Festland lag – , aber es gelang ihr nicht ganz.
Als Bonnie nebenan zu bellen begann, drehte sie eilends die Wasserhähne zu, dann hörte sie das Klopfen an der Zimmertür. Falls die Dusche irgendeine beruhigende Wirkung gehabt hatte, war diese schneller dahin als das Wasser im Abfluss. Ihr Herz begann zu rasen. Sie erwartete keinen Besuch.
»Moment!«, rief sie und schlüpfte rasch in den Frotteebademantel, der an der Badezimmertür hing.
Bonnie, Willas Scotchterrier, patrouillierte vor der Tür auf und ab, bellte in voller Lautstärke. Der Gasthof war klein, besaß nur sechs gemütliche Fremdenzimmer. Kate hatte ihn wegen seiner Lage gewählt – direkt am Meer, mit Sicht auf die meisten Wellenbrecher, und weil Haustiere erlaubt waren. Willa hatte sich hier vor sechs Monaten einquartiert und ihr eine Postkarte geschickt, auf der sie schrieb, wie gut es Bonnie hier gefiel. Der Scotchterrier rannte im Kreis herum, zwischen Bett, Stuhl, Fenster, Tür und Kate hin und her, alle wichtigen Eckpunkte seines Territoriums abdeckend.
»Schon gut, Bon. Beruhige dich«, sagte Kate.
Es klopfte abermals.
Kate stand unmittelbar hinter der Tür; das Problem bei solch alten Gasthöfen war, dass ihnen gewisse moderne Annehmlichkeiten fehlten, wie beispielsweise Türspione. Die Besitzer, Barkley und Felicity Jenkins, hatten jeden Raum nach einem Gemälde des heimischen Künstlers Hugh Renwick benannt: »Flut«, »Taglilien«, »Rote Scheune«, »Jahrmarkt«, »Leuchtturm«. Kates Zimmer trug den Namen »Weiße Segel«.
»Wer ist da?«, rief sie.
»John O’Rourke.«
Kate lehnte sich gegen den Türrahmen, mit weichen Knien vor Erleichterung. Seit wann erschrak sie zu Tode, wenn es an der Tür klopfte?
»Miss Harris?«
»Ja.« Sie griff nach einem trockenen Handtuch. »Ich muss mir nur noch etwas anziehen, ich komme gleich. Wir treffen uns in ein paar Minuten unten, im Klubzimmer, einverstanden?«
»Einverstanden.«
Als sie hörte, wie das Echo seiner Schritte im Gang verhallte, holte sie tief Luft.
Genau deswegen bin ich hier
, dachte sie. Vielleicht waren ihre Gebete ja doch erhört worden. Als sie mit der einen Hand ihre Haare trockenrubbelte und mit der anderen ihre Jeans anzog, beeilte sie sich, so schnell es ging, während Bonnie, die ihre Aufregung fälschlicherweise als bevorstehenden Aufbruch zum Spaziergang deutete, angerannt kam und ihre rote Leine hinter sich herzog, wie Willa es ihr beigebracht hatte.
Das East Wind Inn befand sich am Ende einer langen Zufahrt, auf einer hohen, schroffen Felswand, die auf die Bucht hinausblickte, zwischen dem Haus der O’Rourkes und dem Silver Bay Leuchtturm gelegen. Das weiße Haus besaß weitläufige Veranden, ein steiles Giebeldach und schwarze Holzfensterläden mit ausgekerbten Mondsicheln. Vor mehr als hundertfünfzig Jahren errichtet, hatte es einst direkt neben dem Leuchtturm gestanden, in dem Barkley Jenkins’ Vater, vor der Automatisierung, Leuchtturmwärter gewesen war.
Als die Technologie Einzug hielt, verkaufte die Regierung das historische Bauwerk an Barkley und erteilte ihm die Genehmigung, es in seine Bestandteile zu zerlegen und ein Stück von der Felswand entfernt wieder aufzubauen. Barkley hatte es East Wind genannt – der Name war eine Huldigung an den Ostwind, der ständig vom Meer herüberwehte. Er verdiente seinen Lebensunterhalt damit, dass er sein Anwesen als Landgasthof mit Fremdenzimmern betrieb, die Anlagen des Leuchtturms wartete und Gelegenheitsarbeiten aller Art in der Umgebung übernahm. John und Theresa hatten ihn damals beauftragt, das Dach ihres Hauses auszubessern, und so hatte die Affäre begonnen.
John saß in dem Klubzimmer an der Vorderseite des Hauses und trank eine Tasse Earl-Grey-Tee. Felicity Jenkins hatte sie ihm gebracht, mit unverhohlener Neugierde. Kannte sie die Geschichte, die sich zwischen seiner Frau und ihrem Mann abgespielt hatte, oder war es Barkley gelungen, sie geheim zu halten?
»Bedien dich, John«, sagte Felicity und bot ihm einen Teller mit Plätzchen an, verziert wie Kürbiskopflaternen. »Und nimm den Kindern welche mit. Caleb konnte früher nie genug von meinen selbst gebackenen Plätzchen bekommen – ist bei mir eine Tradition zu Halloween.«
»Danke.« John nahm einen Keks, um sie nicht zu kränken. Sie kannten
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