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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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durch die Marsch beendet, den er jeden Nachmittag unternahm. Doch als Teddy ihm die Tür öffnete, traute er seinen Augen nicht: Obwohl sich neues Dornengestrüpp in Brainers Fell verfangen hatte, sah es tipptopp aus. Es war offenbar kräftig gebürstet worden, denn sämtliche Zecken und verfilzten Stellen waren verschwunden.
    »Wie hat sie denn das geschafft?«, fragte er verblüfft, drehte sich um und sah Maggie an.
    »Wir waren mit ihm in der Autowaschanlage. Sie hat einen Regenmantel angezogen und ihn mit dem Wasserschlauch abgespritzt, und dann haben wir ihn abgetrocknet, mit Hunderten von Handtüchern. Das war lustig.«
    »Wer hat ihn gebürstet?«
    »Kate. Und Brainer hat stillgehalten.«
    Teddy schloss die Augen, spürte das weiche Fell des Hundes an seiner Wange. Er hatte heute beim Fußball Mist gebaut. Durch einen Zuruf abgelenkt – irgendjemand in den Zuschauerreihen hatte »Merrill-Fan« geschrien –, hatte er seinen Gegner ungehindert passieren lassen, der prompt ein Tor schoss. Bis jetzt hatte er sich nicht gestattet, darüber nachzudenken, aber plötzlich umhüllte und erfüllte ihn ein überwältigendes Gefühl des Verlustes.
    »Ich konnte es nicht glauben!« Maggie kniete sich hin, ihr Flüstern zischte in Teddys Ohr. »Brainer hat die Prozedur lammfromm über sich ergehen lassen. Niemand durfte ihn bürsten, seit …«
    »Mom.«
    »Ja.«
    »Und was ist mit dir passiert?« Teddy musterte seine Schwester. »Du siehst aus, als hätte dir auch jemand die Haare gewaschen.«
    »Ich habe gebadet«, sagte Maggie stolz. »Weil ich Lust dazu hatte.«
    »Klasse.«
    »Sie hat uns auch einen Kürbis gekauft, für Halloween.«
    »Wo ist er?«
    »Direkt vor deiner Nase, auf der Treppe zum Haus. Hast du ihn nicht gesehen, als du gekommen bist?«
    »Nein«, sagte er beklommen. »Weil nirgendwo Licht brannte. Nicht einmal die Lampe auf der Veranda.« Das war schlimm. Ihr ehemals einladendes, glückliches Zuhause so bedrückend zu erleben wie ein Leichenschauhaus war ihm peinlich – vor den Müttern seiner Mitschüler, die ihn mit dem Auto heimbrachten und vor dem ungastlichsten Haus im ganzen Block absetzten. Aber das Schlimmste war, dass niemand ihn willkommen hieß: Seine Mutter pflegte immer das Außenlicht anzulassen, bis alle Familienmitglieder daheim waren.
    Als Teddy nun das Licht auf der Veranda einschaltete, spähte er durch das Seitenfenster und entdeckte den Kürbis. Er war gedrungen, fleischig und hellorange, mit einem schauerlichen, welligen Stiel.
    »Lässt sich bestimmt gut aushöhlen«, sagte er.
    »Das hat Kate auch gemeint.«
    »Vielleicht, wenn ich mit Dad rede …« Teddy warf einen Blick auf die Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters.
    »Ja, tu das!« Maggie packte ihn aufgeregt am Handgelenk. »Sag ihm, dass er sie zurückholen soll!«
    Teddy nickte und stand auf. Er tätschelte Brainer, als wäre er ein Maskottchen, das ihm Glück bringen sollte. Maggie und er stießen die Fingerknöchel gegeneinander wie Mannschaftskameraden, und dann ging Teddy beherzt auf die Tür zu.
     
    Das Arbeitszimmer der Familie diente John an Tagen wie diesem als Büro. Er hatte die gerahmten Fotografien und Vogelskulpturen entfernt, die Theresa auf den Schreibtisch seines Großvaters gestellt hatte, die gesammelten Werke von Hawthorne und Melville durch einen Stapel Präzedenzfälle ersetzt und zwei zusätzliche Telefonanschlüsse legen lassen.
    Doch selbst Computer, Faxgerät und Laserdrucker konnten die anheimelnde Atmosphäre des Raumes nicht verändern. Sie ging von dem Teppich auf dem polierten Holzfußboden, den Ledersesseln, dem Marmorkamin, einem Gemälde von Hugh Renwick, das einen Sonnenaufgang darstellte, einem Unterwasser-Aquarell von Dana Underhill und Landschaftsbildern von anderen, aus Connecticut stammenden Impressionisten aus. Theresa hatte es verstanden, einen Raum einzurichten.
    John saß über seinen Schreibtisch gebeugt, in ärztliche Gutachten vertieft. Gregory Merrill litt an einer paraphilen mentalen Störung, die sich – nach Aussage von Dr. Philip Beckwith, dem Psychiater, den John in seine Verteidigungsstrategie einbezogen hatte – in einer »zwanghaften Wiederholung gewalttätiger sexueller Aktivitäten« äußerte.
    Der Psychiater, der von der Staatsanwaltschaft als Gutachter hinzugezogen worden war, hatte Merrill als sexuellen Sadisten bezeichnet. Er hatte seine zwanghaften Gedanken, Impulse und Fantasien beschrieben, die sich unablässig um die Demütigung, Vergewaltigung

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