Die geheime Stunde
ihm bewusst geworden, dass er sie ausfindig machen und ihrem Vater eine dringliche Mitteilung machen musste, damit er seine Tochter besser schützte.
»Was soll das heißen?«
»Nichts.«
»Merrill hat sie beobachtet, richtig?« Kate hatte die Stimme erhoben, klang angespannt. »Deshalb sind Sie hier – es muss mit ihm zu tun haben …«
»Kate, lassen wir das Thema.« John hatte nicht damit gerechnet, dass sie hier sein könnte. Er musste Nachforschungen anstellen, musste sich um seiner selbst willen Gewissheit verschaffen, entscheiden, welche Schritte er unternehmen sollte. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war die Schwester eines weiteren möglichen Opfers, die Zeugin wurde, wie er Indizien für die Schuld seines Mandanten sammelte.
»John – er ist zum Tode verurteilt«, sagte Kate und zerrte an seinem Arm. »Was könnte ihm denn noch Schlimmeres passieren?«
»Darum geht es nicht!«
»Wollen Sie wissen, wie das für meinen Bruder und mich ist?« Sie zog ihn immer noch am Arm. »Mein Bruder will mich nicht sehen, redet nicht mit mir – er denkt, es sei meine Schuld. Er meint, da sie verschwunden ist, könnte ich mich auch gleich zum Teufel scheren. Warum sich überhaupt auf Menschen einlassen, wenn solche Dinge geschehen? Warum sie ein Leben lang lieben, wenn sie eines Tages wie vom Erdboden verschluckt sind? Deshalb glaubt er, es sei besser, sich innerlich abzuschotten … keine Gefühle mehr zu investieren.«
John stand reglos da, der schneidende Wind hatte seine Wangen und sein Kinn taub gemacht. Er dachte an Theresa. Er erinnerte sich, wie ihm erstmals der Verdacht gekommen war, sie könnte untreu sein. Wie er sich gegen die Wahrheit gesträubt und sich einzureden versucht hatte, er bilde sich das alles nur ein. Und wie er sich, als das nicht mehr möglich war – als er mit eigenen Ohren gehört hatte, wie sie am Telefon mit jemandem geflüstert, als er bei der Überprüfung ihrer Handyrechnungen die Anrufe bei Barkley entdeckt und die Zettel gefunden hatte –, ebenfalls innerlich abgeschottet hatte.
Danach hatte er darauf geachtet, keine Gefühle mehr zu investieren. Was konnte sie ihm dann noch anhaben? Nichts – nichts, was zählte, wenn John nichts mehr für sie empfand. Er hatte seine Kinder, seine Arbeit: Sollte Theresa doch sehen, wie sie mit sich selbst zurechtkam, nachdem sie ihre Ehe zerstört hatte. Das ging auf ihr Konto, nicht auf seines. Er wollte keine Scheidung: Er wollte die Angelegenheit in aller Ruhe mit ihr bereinigen. Irgendwann würde sie schon wieder zur Vernunft kommen. Doch bis dahin hatte sich John innerlich abgeschottet.
Und dann hatte Theresas Tod ihn mit eisiger Klarheit in die Wirklichkeit zurückgeholt. Zeit, um die Angelegenheit in Ruhe zu bereinigen? Was für ein Witz. Der Tod hatte all das mit einem Schlag zunichte gemacht. Die Scheidungsfrage war hinfällig geworden; John blieb es erspart, mit dieser Wirklichkeit fertig zu werden. Und deshalb hatte er sich noch mehr abgeschottet. Keine Gefühle mehr investieren? Vielleicht konnte er ein wenig nachempfinden, wie es Kates Bruder zumute sein musste.
»Das tut mir Leid«, sagte er ruhig.
»Tun Sie es nicht nur für mich, sondern auch für meinen Bruder!«, bat sie inständig.
»Hören Sie nicht auf, Gefühle zu investieren«, sagte er unvermittelt und drehte sich wieder zu ihr um. »Wie Ihr Bruder.«
»Zu spät«, flüsterte sie.
»Nein. Ich habe das Päckchen gesehen, das Sie für Maggie dagelassen haben. Das war die schönste Überraschung des Tages … ach, was rede ich, des ganzen Jahres.«
»Wirklich?«
»Ja. Ihre Mutter hatte sich früher um solche Dinge gekümmert, und das vermisst sie.«
»Theresa.«
»Ja.« John zuckte zusammen, als sie den Namen nannte. Wusste sie Bescheid? War der Klatsch der Bewohner von Silver Bay bis zu ihr vorgedrungen?
»Es tut mit Leid, dass Maggie und Teddy ihre Mutter verloren haben. Und Sie Ihre Frau.«
»Ich hatte sie schon verloren, bevor sie starb«, flüsterte er. Er konnte es selbst kaum fassen, dass die Worte über seine Lippen gekommen waren, beinahe wie von selbst. Er beugte sich zu ihr. Mit einem Mal verspürte er das Bedürfnis, ihr alles zu erzählen – sie sollte die ganze Wahrheit erfahren. Sie würde ihn verstehen. Sie würde sich ein Bild machen, würde nachempfinden können, wie es war, einen Menschen zu lieben, der diese Liebe verschmähte … Die Gefühle lasteten schwer auf ihm, und er wünschte sich nur noch eines – sie
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