Die geheime Stunde
einen Blick auf das Foto.
»Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Etwas, das mir weiterhelfen könnte?«
Der Mann schüttelte den Kopf. Beim Anblick der Tränen, die ihr nun ungehindert über die Wangen liefen – wieder eine Sackgasse, wieder eine Enttäuschung –, reichte er ihr eine kleine Serviette von dem Stapel neben der Kaffeekanne.
Kate wusste es intuitiv. Er war es nicht.
»Es tut mir Leid, nein. Die Polizei hat natürlich die Aufzeichnungen der Überwachungskamera überprüft. Keine Ahnung, ob sie etwas darauf entdeckt hat. Uns hat man jedenfalls nichts gesagt. Tut mir Leid.«
»Schon gut.« Kate nahm ihm Willas Foto aus der Hand, nickte ihm zu und verließ den Laden. Ein dumpfes Zittern lief durch ihren Brustkorb – die aufgestauten Gefühle waren wie ein Erdbeben, das ihren Körper ergriff. Jedes Organ wurde durchgeschüttelt. Die Knochen vibrierten, das Gewebe, das sie miteinander verband, war zum Zerreißen gespannt, mehr noch als die Saiten einer Gitarre. Ihre Haut schmerzte bei der kleinsten Berührung.
Kate rannte zu ihrem Wagen, spürte, wie ein Schrei in ihrem Innern aufstieg.
Er war wie ein Wirbelsturm; er würde die Welt in ihren Grundfesten erschüttern.
Sie ließ den Motor an. Bonnie war keine Hilfe, obwohl sie sich bemühte. Sie leckte Kates Hand, winselte, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Kate bemerkte oder hörte den Hund kaum. Willas Kreditkarte war hier benutzt worden, an ebendieser Tankstelle; das konnte gestern, heute, gerade erst geschehen sein, das Gefühl der Unmittelbarkeit hämmerte auf ihre Gedanken ein. Ihre Finger schmerzten, sehnten sich danach, die Hand ihrer Schwester zu ergreifen, ihr Gesicht zu streicheln.
Der Drang, laut zu schreien, nahm überhand; ihr Herz wurde davon zermalmt. Bonnie stupste sie mit der Schnauze an, beunruhigt durch Kates Gemütsverfassung. Kate hätte ihren Kopf am liebsten auf das Lenkrad gelegt und geweint. Statt die Fahrt fortzusetzen, ignorierte sie Bonnies Winseln und fuhr auf den dunklen, menschenleeren Parkplatz hinter der Einkaufsmeile.
Die Beleuchtung war hier sehr schwach.
Nur wenige Autos waren an den Hintereingängen der Geschäfte und Firmen abgestellt. Ein Metallzaun grenzte das Gelände ein, trennte den asphaltierten Parkplatz von den Gärten, die zu den Häusern der benachbarten Straße gehörten.
Die Häuser wirkten klein und adrett, waren hell erleuchtet. In dem Lichtschein, der durch die Fenster fiel, entdeckte Kate die Silhouette eines Kombiwagens, der neben dem Metallzaun parkte. Sie machte den Schatten eines Mannes aus, der an den Abfallcontainern stand – vielleicht etwas wegwarf. Aus dem Autoradio erklang leise Musik, dann knisterte es, und ein klagendes Saxofonsolo folgte.
Tränen schnürten Kates Kehle zusammen, sie konnte kaum schlucken. Das schreckliche Gefühl der Ungewissheit darüber, was Willa widerfahren war – das sich während der gesamten Reise, während der Nachforschungen in Silver Bay, Newport und jetzt in Fairhaven aufgestaut hatte –, brach sich nun wie eine übermächtige Welle seine Bahn.
Kate schluchzte so laut auf, dass Bonnie auf den Rücksitz sprang. Sie weinte um Willa, die auf ihrem Schoß saß und Wale beobachtete, um Willa, die an ihrer Staffelei saß und malte, um Willa und Matt, die den Weihnachtsbaum mit Seeigelgehäusen schmückten, um Matt, der immer noch nach der Königinperle suchte, um Matt den Eremiten, um Willa, die mit Andrew ins Bett gegangen war, um Willa, von der jede Spur fehlte …
Kate weinte, und dann schluchzte sie abermals laut auf. Aus dem Radio ertönte immer noch Musik, aber das Saxofon war von Klavier und Kontrabass abgelöst worden.
Kate weinte bittere Tränen; ihr Herz hämmerte ebenfalls wie ein Kontrabass. Das Schluchzen verlieh ihr das Gefühl, nicht allein zu sein. Plötzlich bemerkte sie, dass sie Gesellschaft bekommen hatte; erschrocken vernahm sie ein Kratzen an ihrer Fensterscheibe. Kate stockte der Atem, aber Bonnie bellte auf eine Art, die anzeigte, dass sie jemanden wiedererkannte.
Brainer stand vor der Autotür, scharrte mit den Vorderpfoten an der Fensterscheibe. Hinter ihm kam John O’Rourke mit weit ausholenden Schritten über den Parkplatz.
Kate war zu aufgewühlt, zu verwirrt, um sich zu fragen, was er hier tat. Möglich, dass seine Beweggründe fragwürdig, nachteilig für sie oder hinterhältig waren, aber das konnte sie nicht recht glauen. Ihr Herz – oder der Teil des Gehirns, der ihren ungehemmten Gefühlsausbruch
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