Die geheime Stunde
unwiderstehlichen Verlangen übermannt, sie zu küssen.
»Worin besteht der Unterschied? Sind die beiden so gegensätzlich?«
Eine interessante Frage, dachte John. Bisher vielleicht nicht. Er war Strafverteidiger geworden, weil er ein redlicher Mann war, der an das Recht jedes Menschen auf einen fairen Prozess glaubte, der an das Gesetz glaubte. Doch in diesem Augenblick kämpfte John mit sich selbst. Er kam sich vor wie Jakob, der mit dem Engel rang – nur dass der Engel sein eigenes Herz, seine Seele war.
»Ja, das sind sie«, sagte John.
»Dann erklären Sie mir, warum …«
Kates Hand umklammernd, ging John mit ihr die Vordertreppe hinunter und die Straße entlang – er hatte nicht vor, wieder den Weg durch die Gärten zu nehmen.
Der Abend war so eisig, dass sie ihren Atem sehen konnten. Der Oktober endete mit Halloween; Schlag Mitternacht begann der November, mit Allerheiligen und danach Allerseelen – trotz seiner irisch-katholischen Erziehung hatte er die beiden nie auseinander halten können. In letzter Zeit war er abtrünnig geworden, der reinste Heide. Am Ende des Blocks befand sich eine Steinkirche –
Spiritus Santi
auf Portugiesisch. Heiliger Geist …
Dem lokalen Brauch entsprechend, traten die Gläubigen in ebendiesem Moment ins Freie, bildeten eine stumme, feierliche Prozession, brennende Kerzen in den Händen, um der Seelen ihrer Verstorbenen zu gedenken, Menschen, die ihnen besonders nahe standen …
»Glauben Sie an irgendetwas?«, fragte John Kate, als die Menschen auf den kleinen Friedhof strömten.
»Ja«, erwiderte sie still.
»Verraten Sie mir, woran?« Er lachte. Sein Scherz rief nicht einmal ein müdes Lächeln bei ihr hervor.
Als sie den Block umrundeten und zum Parkplatz zurückgingen, blickten sie zum Haus hinüber und sahen den Vater, der das Fenster des Mädchens gerade mit einer Decke verhängte. Fünf Sekunden später drang kein einziger Lichtstrahl mehr nach außen. Die beiden standen reglos da, hielten sich an den Händen, vergewisserten sich, dass man nicht einmal den Schatten des Mädchens vorübergehen sah.
Kate stellte sich so graziös auf die Zehenspitzen, dass John genau wusste, was zu tun war, und nun gab es für ihn kein Halten mehr. Er schloss sie in die Arme und küsste sie, lange und voller Glut. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte der Kuss die ganze Nacht dauern können; in dem Moment, als sie sich von ihm löste, sehnte er sich bereits nach mehr.
»Kate«, flüsterte er.
»Sie ist jetzt sicher.«
»Niemand ist jemals sicher«, entgegnete John abrupt und umfasste ihr Gesicht mit seinen Händen.
»Sag das nicht …« Kates Augen füllten sich mit Tränen.
Er hatte das Bedürfnis, sie abermals zu küssen, aber noch stärker war der Wunsch, ihr die Wahrheit zu sagen. Lügen hatte seine Familie um ein Haar zerstört. Er setzte in diesem Augenblick seine gesamte berufliche Laufbahn aufs Spiel, und er war nicht bereit, Tatsachen zu beschönigen.
»Ich weiß es, hundertprozentig«, sagte John.
Kate schüttelte den Kopf, aber er ließ nicht locker.
»Du weißt es auch.« Seine Stimme klang heiser. »Sonst wärst du nicht hier.«
»Was willst du damit sagen?«
»Deine Schwester wäre noch zu Hause … in Sicherheit. In ihren eigenen vier Wänden; und du in deinen … das letzte halbe Jahr hätte es nie gegeben. Sie wäre nicht mit meinem Mandanten in Berührung gekommen.«
»Wovon redest du?«
»Du weißt es …«
»Nein, sag es mir.« Sie brachte die Worte nur schwer über die Lippen, krallte sich in die Vorderseite seiner Jacke. Ihre Hand blutete, hinterließ einen Fleck auf der grünen Wolle.
»Deine Schwester war hier.« John hielt Kate an sich gepresst, damit sie sich nicht losreißen konnte. »Zur gleichen Zeit wie mein Mandant.«
»Merrill?«
»Ja. Er war auf diesem Hinterhofparkplatz, beobachtete das Mädchen dort drüben …« Er wies auf das kleine Haus, das Fenster, das nun dunkel war. »Und sein Vorhaben wurde durchkreuzt. Ich nehme an …«
»Willa tankte«, flüsterte Kate mit glühenden Augen.
»Richtig.«
»Er hat sich an sie herangepirscht …«
»Er zwang sie, in ihr Auto einzusteigen.« John war sich dessen nicht völlig sicher, aber er benutzte sein Wissen über das psychologische Profil seines Mandanten und seine Methoden, um Kates Fragen zu beantworten.
»Und nötigte sie wegzufahren?«
»Ja.«
»Woher weißt du das?«, fragte sie, von Grauen erfüllt.
»Weil das seine typische Vorgehensweise
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