Die geheime Stunde
herauszulassen.
»Wirklich?«
»Wir hatten uns auseinander gelebt … auch wenn wir noch unter einem Dach wohnten. Ihr Herz war nicht mehr dabei …«
»Das tut mir Leid«, flüsterte Kate. Sie verstummte. Sie wandte sich ab, als wären Johns Augen ein Spiegel, in dem sie sich selbst sah, ein Anblick, den sie nicht ertrug.
John hob den Blick, erinnerte sich mit einem Mal wieder an das Mädchen im Raum. In wenigen Jahren würde Maggie im gleichen Alter sein.
»Er hat sie beobachtet, oder?« Kate sah nun zu ihm herüber. Stellte sie sich Willa als blutjunges Mädchen vor? Und Wildfremde, die auf einem Hinterhof-Parkplatz standen und sie beim Auskleiden beobachteten?
»Lassen Sie mich das machen, ja?« Sein Ton war sanft. Er hatte begonnen, ihr seine Seele zu offenbaren; sie sollte wissen, dass sie ihm vertrauen konnte, dass er jede Spur verfolgen und sein Bestes tun würde, um das Verschwinden ihrer Schwester aufzuklären. »Ich werde es Ihnen sagen, wenn ich kann.«
»Ich muss es wissen!« Ihre Stimme wurde lauter, abgehackt.
»Sie werden es als Erste erfahren – das verspreche ich«, sagte John und ergriff ihr Handgelenk.
Kates Blick war wild, wie besessen. Sie starrte das Mädchen an. »Wir können sie nicht einfach gewähren lassen«, sagte sie. »Sie muss wissen, dass die Leute von draußen hereinschauen können.«
»Sie haben Recht.«
Plötzlich lief Kate zum Zaun. Wie ein Kettenhund rannte sie an ihm entlang, hin und her, bis sie eine Öffnung im Maschendraht entdeckte. John sah, wie sie durch einen benachbarten Garten rannte. Sie glitt auf einer Betonplatte aus – ihre Lederschuhe rutschten weg, die Sohlen scharrten über die raue Oberfläche. Sie stürzte zu Boden, fing sich mit einer Hand ab und lief weiter.
John blieb keine andere Wahl, als sich an ihre Fersen zu heften. Sie lief an der Seite des Hauses entlang, vorbei an einem umgedrehten Boot – das, was Merrill erwähnte, das jetzt an einer anderen Stelle lag? – und durch einen Garten, der mit verwelkten Tomatenpflanzen und Weinstöcken überwuchert war. Er folgte ihr an einer leeren Vogeltränke vorbei bis zur Vordertreppe, hörte, wie sie gegen die Tür hämmerte – so laut, dass ein Hund am anderen Ende der Straße zu bellen begann.
»Was gibt’s?« Ein Mann kam zur Tür.
»Ihre Tochter!«, sagte Kate, außer Atem.
»Was ist mit ihr?«
»Man kann sie beim Ausziehen beobachten – durch das Fenster in ihrem Schlafzimmer.«
»Was soll der Scheiß?«
Der Mann war hoch gewachsen, dunkel, herrisch. Er hob den Arm – als wollte er Kate schlagen, wegen ihrer Worte oder wegen dem, was sie gesehen hatte. John preschte die Stufen hinauf, stellte sich zwischen ihn und Kate.
»Wagen Sie ja nicht, sie anzurühren!«, sagte John laut.
»Was soll der SCHEISS ?«, wiederholte der Mann, dessen muskulöser, tätowierter Arm in der Luft verharrte.
»Das soll eine Warnung sein. Sie möchte Ihrer Tochter helfen.«
»Was zum Teufel wissen Sie über meine Tochter?«
John hörte Kates Atem an seinem Ohr. Die Augen des Mannes waren verhangen, drohend – als sei er gerade zu einem Kampf auf Leben und Tod herausgefordert worden. Zwei Frauen – seine Frau und seine Mutter? – standen hinter ihm, die ältere von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Und das Mädchen – hübsch, nicht älter als vierzehn, Angst in den grünen Augen – spähte um die Ecke, der weiße Träger ihre Nachthemds enthüllte eine nackte Schulter.
»Nichts«, sagte John, den Blick des Mädchens erwidernd. Er wollte sie beruhigen, aber gleichzeitig warnen und schützen. »Wir wissen nicht das Geringste über sie. Ihre Fenster gehen auf den hinteren Parkplatz hinaus – das ist alles. Wir wollten Ihnen nur sagen, dass Sie vorsichtig sein sollten.«
»Belle, komm her!« Die Augen des Vaters hatten nichts von ihrer Streitlust eingebüßt. »Stimmt das? Dass du dich vor dem Fenster produzierst?«
»Nein!«, winselte sie und rannte durch den Flur davon.
»Lügt sie?«, fragte der Mann seine Frau, die ebenfalls verschwand und ihrer Tochter nachging.
»Bestrafen Sie sie nicht. Es ist nicht ihre Schuld«, sagte Kate beschwichtigend.
»Mischen Sie sich gefälligst nicht in Dinge, die nur meine Familie etwas angehen«, warnte der Mann. »Verdammtes neugieriges Weibsstück.«
John spürte einen metallischen Geschmack im Mund. Das Blut rauschte durch seine Adern ins Nervensystem; ihm war, als hätte er soeben das Revier eines Haustyrannen betreten, dem es nicht
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