Die geheime Stunde
herumgeführt, ihm einen Hinweis gegeben, den er sich aus den Fingern gesogen hatte.
Ein Haus, ein Fenster im Erdgeschoss, ein junges Mädchen, das sich auszog.
Jetzt war Schlafenszeit. John hatte noch nie den Voyeur gespielt, auch nicht, wenn es einem Mandanten diente, aber alles, was er heute Abend durch die Fenster dieser Häuser ausgemacht hatte, waren ein alte Frau, die den Rosenkranz betete, ein Mann, der sich die Zähne putzte, und eine Familie, die vor dem Fernseher saß.
»Warum sind Sie hier, Kate?«
»Aus dem gleichen Grund wie Sie, vermutlich.«
»Ich glaube nicht …«, sagte er, unwillig, auch nur ein Wort von dem preiszugeben, was Merrill ihm erzählt hatte.
»Ich schon«, erwiderte sie leise und traurig.
John sah aus dem Fenster des Wagens. Sein Blick fiel auf das Haus unmittelbar gegenüber dem Parkplatz. Die Rückseite des Hauses, genauer gesagt, die Vorderseite lag an der Straße, einen Block entfernt.
Dort war der Zaun, über den Merrill gestiegen war, wie er zugegeben hatte; die Fenster im Erdgeschoss waren dunkel, doch plötzlich ging hinter einem das Licht an, der Blick in das Innere des Raumes wurde durch die weißen Vorhänge verwehrt. Als würde er befürchten, Kate Harris könnte seinem Blick folgen und seine Gedanken lesen, schaute er nun bewusst über den Parkplatz zu den anderen Häusern hinüber.
»Sie wissen, dass ich Recht habe«, sagte sie. »Sie sind der Sache auf den Grund gegangen, als ich Fairhaven erwähnte … Merrill war hier, stimmt’s?«
»Bitte keine Diskussion über meinen Mandanten.«
»Er war
hier –
auf diesem Parkplatz. Sonst wären Sie nicht gekommen! War das am selben Abend wie meine Schwester? Bitte, Sie müssen es mir sagen!«
Johns Augen wanderten zum Fenster zurück. Es war das richtige Haus – es musste das richtige sein. Sein Herz begann zu hämmern. Jemand hatte gerade den Raum im Erdgeschoss betreten, das Licht eingeschaltet.
Eine Gestalt ging im Zimmer umher. Näherte sich dem Fenster, entfernte sich … unmöglich, Alter oder Geschlechtszugehörigkeit zu erkennen.
Dann ging eine weitere Lampe an – heller, weiter hinten im Raum.
Der Schatten eines jungen Mädchens tauchte im Licht auf. Das Blut rauschte in Johns Ohren. Er sah die Umrisse von Hüften und Brüsten – sah nackte Haut durch den Spalt des Vorhangs aufblitzen, ein Nachthemd, das über den Kopf gezogen wurde.
Wie alt mochte sie sein? Vierzehn?
Vor sechs Monaten … war sie dreizehn, höchstens vierzehn Jahre alt gewesen. Mit Sicherheit hatte ihr Anblick ihn aus dem Wagen gelockt, ihn bewogen, den mit Glasscherben übersäten, asphaltierten Parkplatz zu überqueren, den mit Spitzen bewehrten Zaun zu erklimmen. Ihre Nähe hatte die verhängnisvolle chemische Reaktion in seinem Gehirn erzeugt – diese abartige Mischung aus Hormonen und Nervenkitzel –, die das weitere Geschehen ausgelöst und ihn wie einen Roboter in Gang gesetzt hatte.
»John? Bitte seien Sie fair! Ich bin Willas Schwester. Wenn Sie etwas wissen …« Kates Stimme klang flehentlich.
Wortlos stieg John aus dem Wagen. Er hörte die Hunde hinter sich bellen, aber er beschleunigte seinen Schritt. Glassplitter knirschten unter seinen Füßen. Dieser Teil des Parkplatzes war vermutlich bei Jugendlichen beliebt, die sich hier trafen, um heimlich Alkohol zu trinken, die Zeit totzuschlagen und Sex im Auto zu haben – keine Straßenbeleuchtung, keine Eltern, die sie mit Argusaugen überwachten.
Das Mädchen hielt sich in ihrem Zimmer auf. Hatte ihr niemand gesagt oder ihren Vater gewarnt, dass jeder Perverse sie mühelos beobachten konnte, wie auf dem Silbertablett serviert? John überlegte, wie es wäre, wenn ein Fremder Maggie beim Anziehen zusah, und schwor sich, Jalousien und blickdichte Vorhänge für ihr Schlafzimmerfenster zu kaufen. Es gab einiges, wogegen er die Menschen schützen musste, die er liebte. Als Eingeweihter hatte er Einblick in den Abgrund der menschlichen Seele, und im Augenblick zerriss es ihn fast bei dem Gedanken daran.
Er hörte, wie jemand hinter ihm herlief, aber er setzte seinen Weg unbeirrt fort.
»Wer ist sie?« Kates Stimme klang atemlos, als sie ihn einholte.
»Niemand.« John hatte mit einem Mal ein flaues Gefühl im Magen.
»Warum beobachten Sie das Mädchen?«
»Ich bin nicht der Einzige.« Die Worte waren ihm ohne sein Zutun entschlüpft, ohne ihre Reaktion zu bedenken. Während er nach links und rechts spähte, um abzuschätzen, in welchem Haus sie wohnte, war
Weitere Kostenlose Bücher