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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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behagte, sich Frauen gegenüber zu rechtfertigen. Hoffentlich hatte Kate gerade dem Mädchen nicht das Leben zur Hölle gemacht. Und hoffentlich gelang es ihm, sich zusammenzureißen, um nicht als Erster zuzuschlagen und noch vor dem Widerling hinter Gittern zu landen.
    »Hören Sie, Sir«, sagte John laut und deutlich, in seiner höflichsten Gerichtssaal-Stimme, das Gesicht eine Handbreit von dem des dunklen, verdrießlichen des Hausbesitzers entfernt. »Es ist mit Sicherheit nicht angenehm, wenn Wildfremde auf Ihrer Schwelle stehen und Ihnen eröffnen, dass sie Ihre Tochter durch einen Spalt in der Gardine gesehen haben. Der
geschlossenen
Gardine, wohlgemerkt. Das ist NICHT ihre Schuld.«
    Der Mann zuckte zusammen, als hätte John ihn an der Gurgel gepackt.
    »Aber ich dulde nicht, dass Sie meine Freundin ›Weibsstück‹ nennen. Hören Sie? Sie versucht nur, Ihrer Tochter zu helfen … Ihnen zu helfen. Die Welt ist schlecht. Es gibt Ungeheuer, die nicht einmal vor einem Engel Halt machen würden …«
    »Meine Tochter ist ein Engel«, unterbrach ihn der Mann, dessen Kampfeslust nachzulassen schien. »Das kann ich Ihnen versichern.«
    »Sehen Sie? Dann haben wir vielleicht doch geholfen.«
    »Dieser verdammte Parkplatz.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Jeden Samstagabend treiben sich diese Halbwüchsigen dort herum. Ich habe Angst, dass sie über den Zaun klettern, seit sie vierzehn geworden ist. Vierzehn, dabei könnte sie glatt für dreißig durchgehen.«
    Darüber hättest du dir Sorgen machen sollen, als sie acht war,
dachte John.
Oder neun, elf, zwölf … es gibt keine magische Zahl.
    »Passen Sie gut auf Ihre Tochter auf.« Kates Stimme klang gepresst, und John wusste, dass sie an Willa dachte.
    »Darauf können Sie Gift nehmen«, sagte der Mann.
    Dann schlug er ihnen die Tür vor der Nase zu. Kate stand wie angewurzelt da, musterte ihre hohlen Handflächen. John trat einen Schritt vor, um besser zu sehen. Der rechte Handballen war aufgeschrammt, blutig und wund.
    »Ein kleiner Kratzer, als ich ausgerutscht bin. Im Garten.«
    »Sieht aus, als würde er wehtun.« John nahm behutsam ihr Handgelenk. Wenn es Maggies Hand gewesen wäre, hätte er sich hinuntergebeugt und einen Kuss darauf gehaucht. Er wünschte es sich, begnügte sich aber damit, die Stelle zu berühren.
    Kate nickte stumm. Sie zog ihre Hand weg und trat einen Schritt beiseite, machte Anstalten, zu ihrem Wagen zurückzukehren. Doch da John sie nicht losließ, hatte sie keine andere Wahl, als stehen zu bleiben. Er hielt ihr Handgelenk, strich über die weiche Haut, dann nahm er ihre verletzte Hand in seine.
    Auf den Treppenstufen einer wildfremden Familie stehend, sah John in Kate Harris’ graugrüne Augen. Ihre Hand fühlte sich warm und zart an, und plötzlich wünschte er sich, sie würde sein Gesicht berühren. Sein Atem ging schwer.
    »Ich bin Strafverteidiger.«
    Kate nickte. »Ich weiß.«
    John schwankte auf den Stufen, als hätte ein heftiger Sturm eingesetzt, als wäre soeben ein Gezeitenwechsel erfolgt und die Flut gekommen, um ihn ins Meer zu ziehen. Die Strömung war stark, wie bei einer Springflut. Als Junge hatten er und seine Freunde die Schule geschwänzt und den Tag in Misquamicut verbracht. John war in eine solche Springflut geraten und vom Sog mitgerissen worden. Wie sehr er auch dagegen ankämpfte, die Strömung war stärker.
    »Schwimm parallel zum Ufer«, hatte ihm sein Vater stets eingeschärft – ein guter Rat für einen Jungen, der am Meer wohnte und mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann in seinem Leben Gefahr laufen würde, in eine Springflut zu geraten. In seiner Panik hatte John seinen Rat zunächst vergessen und, seinem Instinkt folgend, versucht, mit aller Gewalt ans Ufer zurückzuschwimmen. Das führte zu nichts, er ermüdete schnell und spürte, wie er unweigerlich aufs offene Meer hinausgezogen wurde.
    »Ich befinde mich in einem ethischen Dilemma«, sagte er nun, Kates Hände haltend. Seine Stimme war so leise, dass er nicht sicher war, ob sie ihn überhaupt gehört hatte.
    »Inwiefern?«
    »Ich bin hin- und hergerissen zwischen meiner Pflicht als Anwalt und meinem Wunsch als Mann …«
    Sie legte den Kopf zur Seite, das Licht verfing sich in ihren steingrauen Augen. Sie waren tief und warm, von unergründlichen Geheimnissen und Kummer erfüllt, aber seltsamerweise spiegelten sich Lachen und Freude gleichermaßen darin. John O’Rourke sah sie an, hielt ihre Hände und wurde von dem nahezu

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