Die geheime Stunde
steuerte – sagte ihr das Gegenteil.
Sie riss die Autotür auf und ließ Brainer hineinspringen, um Bonnie zu begrüßen, während sie hinaustaumelte und sich blind in Johns Arme stürzte, um sich an seiner Brust auszuweinen.
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12
W as um alles in der Welt hatte er auf einem Parkplatz in Fairhaven zu suchen, und warum hielt er inmitten von Nebelschwaden und nordatlantischen Windböen ausgerechnet diese Frau in den Armen, mit klopfendem Herzen, als hätte er gerade an einem Marathonlauf teilgenommen? John war verwirrt.
Ihr Haar duftete nach Zitronen. Ihr Atem war warm, ging in Stößen, drang durch die Schulterpartie seiner Wolljacke. Sie schluchzte und zitterte am ganzen Körper, überwältigt vom Aufruhr der Gefühle. John, daran gewöhnt, Maggie in den Arm zu nehmen, wenn sie weinte, stand regungslos da, ungeachtet seiner eigenen heftigen Empfindungen, bis Kate ihre Fassung wiedergewonnen hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Wassumteufelmahensiedennier?«, murmelte sie, ihre Stimme gedämpft durch die Tränen und seine Jacke.
»Noch mal das Ganze, damit ich etwas verstehe.«
Sie rückte von ihm ab und sah ihn mit großen, beunruhigten Augen an. »Was zum Teufel machen Sie denn hier?«, wiederholte sie.
»Seltsam, dass Sie mich das fragen.«
»Warum?«
»Weil ich Ihnen gerade die gleiche Frage stellen wollte. Wie wäre es, wenn Sie mich in Ihren Wagen einladen, damit wir aus der Kälte herauskommen?«, schlug er vor, zum einen, um Zeit zu gewinnen, bevor er antwortete, und zum anderen, weil es ihn wunderte – und erschreckte –, wie glücklich er war, sie auf diesem gottverlassenen Parkplatz zu treffen, weit entfernt von ihrer beider Zuhause.
Beim Einsteigen musterte John sie mit dem gleichen Röntgenblick wie einen Mandanten, dem man ein unsägliches Verbrechen zur Last legte. Konnte er ihrer Erklärung Glauben schenken? Würde sie mit der ganzen Wahrheit herausrücken oder zu einer Halbwahrheit greifen? Oder ihm Lügenmärchen auftischen? Würde sie einige der hässlichen, unangenehmen Fakten in Zusammenhang mit dem Fall ihrer Schwester verbrämen?
Er schluckte, wandte den Blick ab. An Vertrauen mangelte es ihm schon seit geraumer Zeit. Dennoch, sie war so schön und verletzlich. Während er sie in den Armen hielt, hatte er sich gewünscht, der Augenblick möge nie enden, und er könnte sie vor dem bewahren, was sie am meisten fürchtete. Er war nach Fairhaven gekommen, um ihr zu helfen, und nun hatte der Zufall sie hier zusammengeführt. Als er verstohlen zu ihr hinüberspähte, sah er, wie sie sich die Augen trocknete. Er dachte an Theresa, an Willa. Sein Herz hämmerte, und er wünschte sich tief in seinem Innern, dass Kate Harris der Mensch war, der sie zu sein schien.
»Was starren Sie so?«, flüsterte sie und wischte sich die Tränen weg.
»Es ist nur … ach, nichts«, stotterte John verlegen, weil er sich bei dem Versuch ertappte, ihr zu vertrauen.
»Wie kommen Sie überhaupt hierher?«
»Sie zuerst. Bei unserer letzten Begegnung wollten Sie doch auf schnellstem Weg nach Hause zurück.«
»Woher wissen Sie das?«
»Von Maggie. Sie lässt Ihnen übrigens ihren Dank für den Schal und die Brille ausrichten. Dass Sie abreisen, war aus dem kurzen Brief ersichtlich, den Sie für Maggie hinterlassen haben, mit der Bitte, mich, Teddy und den Köter zu grüßen.«
»Hast du das gehört, Brainer?« Kate blickte auf den Rücksitz. »Jetzt weißt du, wie viel Achtung dir dein Herrchen entgegenbringt … und ich soll über jeden meiner Schritte Rechenschaft ablegen?« Sie wandte sich John zu und zwinkerte; ihre Augen waren klar in dem trüben Licht, das auf dem Parkplatz herrschte. »Ich habe nie behauptet, dass ich auf dem schnellsten Weg nach Hause fahren würde. Ich sagte, ich würde abreisen.«
»Ich bin davon ausgegangen, dass Sie nach Washington zurückkehren.«
»Eindeutig ein Trugschluss.«
»Mein Fehler. Also – warum sind Sie hier?«
Sie antwortete nicht; er sah den Pulsschlag an ihrem Hals, das Zucken der perlweißen Haut, als sei sie gerade einen Hügel hinaufgerannt.
»Warum haben Sie geschrien? Ich dachte schon, jemand würde Ihnen etwas antun.«
»So ist es ja auch. Der Mann, der mir meine Schwester genommen hat«, flüsterte sie.
Johns Magen verkrampfte sich. Er schloss die Augen. Bisher hatte sein Abstecher nach Fairhaven nicht den geringsten Beweis erbracht. Vielleicht war die ganze Geschichte ein Produkt der Fantasie. Merrill hatte ihn an der Nase
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