Die geheime Stunde
Vater.
»Also, dann ab mit Ihnen«, sagte Kate Harris, und plötzlich spürte Maggie eine Hand auf ihrem Kopf. Die Finger waren leicht und kühl, und sie tasteten nach ihrer Hand, ergriffen sie und zogen sie sanft von ihrem Vater weg. Maggie versuchte nicht einmal, sich dagegen zu wehren.
Sie löste sich aus der Umarmung ihres Vaters. Sein Blick sagte ihr, dass er seine Zusage gerne rückgängig gemacht hätte – die Wunde nicht nähen lassen wollte, sondern sie lieber zu Fuß zur Bushaltestelle gebracht hätte, um danach ins Büro zu fahren. Maggie hatte einen Knoten im Magen, aber Kate Harris ging in die Hocke, blickte ihr in die Augen, und der Knoten schmolz dahin.
»Es wird alles wieder gut«, sagte sie. »Er wird sehr tapfer sein und die Wunde nähen lassen. Wenn sie fertig sind, schenken sie ihm vielleicht einen Lutscher.«
»Warum?« Maggies Lippen verzogen sich unwillkürlich zu einem Lächeln.
»Zur Belohnung, weil er sich überwunden hat, genau das zu tun, was richtig ist.«
»Ich will keinen Lutscher«, warf ihr Vater ein, so unwirsch wie Teddy, wenn er abwaschen musste.
»Möglich, dass Sie keinen wollen.« Kate lächelte so liebevoll und nachsichtig, dass Maggie sich noch mehr zu ihr hingezogen fühlte. »Aber vielleicht könnten Sie einen gebrauchen. Etwas Süßes ab und zu hat noch niemandem geschadet. Stimmt’s, Maggie?«
»Stimmt«, wisperte Maggie. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber zum ersten Mal seit langem, länger als sie sich erinnern konnte, vor Freude. Kate Harris war tatsächlich ihr neues Kindermädchen. Sie war wie von Zauberhand auf ihrer Türschwelle erschienen, genau wie Mary Poppins oder ein neugeborenes Baby, genau wie ein Korb mit den herrlichsten Sommerblumen, die man sich nur vorstellen konnte.
»Stimmt«, räumte ihr Vater mit seiner kantigen, harten Stimme ein, aber das spielte keine Rolle. Kate Harris hatte ihn dazu gebracht, still zu sitzen und seine Wunde nähen zu lassen, sich in die Obhut von Fachleuten zu begeben, so dass er nicht aufstand, sich hinsetzte und plötzlich tot umfiel – wie ihre Mutter.
Kate Harris hatte ihrem Vater gerade das Leben gerettet, und dafür liebte Maggie sie.
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2
K ate sah zu, wie der Anwalt in den hinteren Teil der Ambulanz kletterte und seinen Kindern matt zuwinkte, als sich der Wagen in Bewegung setzte. Nähen war in Ordnung; auch Röntgenaufnahmen und vielleicht eine Computertomografie, um das genaue Ausmaß der Verletzung festzustellen. Venen, Arterien, Blutgefäße im Kopf: gerade dort sollte man nichts übersehen.
»Können wir ihn nicht in die Notaufnahme begleiten?«, fragte Maggie.
»Besser nicht«, meinte Kate. »Hat euer Vater nicht etwas von Schule erwähnt?«
»Ja, hat er«, erklärte die Nachbarin. Maggie schwieg, beobachtete die Straße. Die Ambulanz war schon längst um die Ecke gebogen, aber sie schaute ihr immer noch angestrengt nach, als sähe sie Gespenster in der kalten Oktoberluft.
»Ich kann mich keine Minute konzentrieren, bevor ich nicht weiß, wie es ihm geht«, protestierte Maggie.
»Komm jetzt, Mags.« Ihr Bruder Teddy – der drei Jahre älter war, wie es in den Zeitungsausschnitten hieß – zog sie ins Haus. Kate sah ihnen nach. Sie konnte es kaum erwarten, ihnen zu folgen – ins Haus zu gelangen, sich umzuschauen, sich dicht am Ziel zu fühlen –, aber die Nachbarin stand direkt neben ihr. Der Hund war bereits drinnen, ein wunderschöner Golden Retriever, doch sein Fell war verfilzt, voller Schlamm und Kletten. Der Gedanke an Bonny, die durch die dornigen Marschen am Meer stromerte, versetzte ihr einen Stich.
»Na also«, sagte die Frau und musterte Kate mit einem warmen, aber wachsamen Blick.
»Ja, damit wäre der Fall erledigt.«
»Sie können sich nicht vorstellen, was er durchgemacht hat«, sagte die Frau. »Die ganze Familie, genauer gesagt. Wir bilden uns gerne ein, Kinder wären robust wie Stehaufmännchen, die immer wieder auf die Füße kommen, aber wie könnten sie, nachdem sie ihre Mutter so früh verloren haben? Und dann dieser hinterhältige Angriff …«
»Was denken Sie, wer es war?«
»Könnte jeder gewesen sein. Die Zeitungen sind voll von solchen Geschichten, jeden Tag … Wir leben in einer Kleinstadt, und die Leute wissen, wo John wohnt. Sie fahren ständig an seinem Haus vorbei. Manche beschimpfen ihn auf die unflätigste Weise.«
»Das ist eine Verletzung der Privatsphäre«, murmelte Kate und spürte, wie sie errötete.
»Ja. Furchtbar –
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