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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Einfluß und ihren Beziehungen. Sie erinnerte sich an den schwarzen Tintenstrahl, der das weiße Blatt besudelte, und während sie ins Dunkel starrte, dachte sie, daß Lady Blythe auf Rache sinnen würde.
    Verzweifelt umschlang sie ihren Sohn und atmete den süßen Duft seiner Haut ein, während Tränen über ihr Gesicht rannen.
    Am Morgen ließ die Angst nach. Als Thomasine aufstand, sagte sie sich, daß Lady Blythe bekommen hatte, was sie schon immer haben wollte: ihren Sohn. Diese kalte, besitzergreifende Liebe war schließlich befriedigt worden. Und wenn Nicholas dennoch seine Frau – sein Kind – zurückhaben wollte, wußte er, was er tun mußte. Thomasine konnte sich vorstellen, wie qualvoll es für Nicholas wäre, sich wieder einem Arzt anzuvertrauen, aber sie wußte auch, wie lebenswichtig dies war. Sie hoffte, daß ihm ihre Abreise einen genügend großen Schock versetzt hatte, um diesen Schritt zu tun.
    Ihre Flucht von Drakesden nach London erinnerte sie an jene andere Flucht vor zehn Jahren. Auch damals hatte sie ganz spontan gehandelt, ihre Entscheidung aber nie bereut. Als die Tage verstrichen, stellte sie eine Ruhe, einen geistigen Frieden an sich fest, den sie schon seit langem verloren zu haben glaubte. Manchmal, wenn sie das Land vermißte, die Arbeit, die sie zur Sicherung der Güter von Drakesden Abbey angefangen hatte, wußte sie, daß es andere Arbeit gab. Zudem waren ihre Errungenschaften reine Illusion gewesen. Immer hatte sie gegen das unverrückbare Hindernis ankämpfen müssen, das Nicholas und seine Mutter darstellten, gegen eine Mauer aus Tradition, mangelnder Weitsicht und Unfähigkeit zu Veränderung. Jetzt hatte sie wieder die Kontrolle über ihr Leben. Sie begann, die Stellenanzeigen in der Zeitung durchzusehen, und suchte nach einer Arbeit, die sie trotz des Kindes übernehmen konnte.
    Lally bat Simon, sie noch einmal in den Klub in Soho zu führen. Simon hatte etwas gesagt, das sie nicht mehr losließ und ihre Neugier anstachelte. Wozu sonst die Eile? Dein Bruder ist schließlich ein so konventioneller Bursche . Sie fand, daß Simon recht hatte: Nicholas’ hastige Eheschließung mit Thomasine Thorne paßte so gar nicht zu ihm.
    Nachdem die Aufführung vorbei war, ließ sich Lally vom Manager des Klubs in die Garderobe der orientalischen Tänzerin führen. Der Manager erklärte ihr, daß der Name der Tänzerin Alice Johnson sei. Lally klopfte an die Tür und wurde hineingebeten.
    Es war ein schäbiger kleiner Raum, nicht größer als eine Besenkammer und spärlich von einer nackten Glühbirne beleuchtet. Zwei weitere Mädchen teilten die Garderobe mit Miss Johnson. Sie kämmten sich und hängten ihre grellbunten Kostüme auf Kleiderbügel.
    Lally lächelte: »Wie schön, Sie zu sehen, Alice. Ich dachte, ich schau einfach mal rein.«
    Alice drehte sich auf ihrem Hocker herum und blickte auf. Sie trug immer noch die Haremshose, das Leibchen, die hochgebogenen spitzen Pantoffeln. Den Turban hatte sie abgenommen, und das blonde Haar umrahmte ihr Gesicht. Lally stellte fest, daß Miss Johnsons Augen nicht dunkel waren, wie sie angenommen hatte, sondern blau. Das Blau war zu einem schmalen Ring um die großen schwarzen Pupillen geschrumpft.
    Â»Wir kennen uns von Paris her«, fügte Lally fröhlich hinzu.
    Die anderen Mädchen packten ihre Sachen zusammen. »Wir machen uns auf die Socken«, sagte eine, »und lassen dich in Frieden. Tschü-üs.« Die Tür schloß sich hinter ihnen.
    Â»Paris?« fragte Alice unbestimmt.
    Lally holte ihr Zigarettenetui heraus und hielt es Alice hin. »Ja. Wir haben eine gemeinsame Freundin – erinnern Sie sich nicht? Thomasine Thorne.«
    Â»Thomasine?« Alice runzelte die Stirn. »Ich hab mich immer gefragt, was aus ihr geworden ist. Hab die Verbindung verloren. Wie geht’s dem Kind? Was hat sie gekriegt?«
    Die dunklen, leicht glasigen Augen richteten sich auf Lally, die einen Moment lang vollkommen verwirrt war. Wie geht’s dem Kind? Was hat sie gekriegt? Zuerst dachte sie, Alice meine mit »dem Kind« Thomasine selbst, aber nein, das stimmte nicht. Dann dachte sie, Alice spräche von William. Aber das konnte auch nicht sein. Lallys Herz begann zu klopfen. Geheimnisse, dachte sie. Geheimnisse. Sie beobachtete Alice, die eine Flasche Gin aus ihrem winzigen

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