Die geheimen Jahre
Einfluà und ihren Beziehungen. Sie erinnerte sich an den schwarzen Tintenstrahl, der das weiÃe Blatt besudelte, und während sie ins Dunkel starrte, dachte sie, daà Lady Blythe auf Rache sinnen würde.
Verzweifelt umschlang sie ihren Sohn und atmete den süÃen Duft seiner Haut ein, während Tränen über ihr Gesicht rannen.
Am Morgen lieà die Angst nach. Als Thomasine aufstand, sagte sie sich, daà Lady Blythe bekommen hatte, was sie schon immer haben wollte: ihren Sohn. Diese kalte, besitzergreifende Liebe war schlieÃlich befriedigt worden. Und wenn Nicholas dennoch seine Frau â sein Kind â zurückhaben wollte, wuÃte er, was er tun muÃte. Thomasine konnte sich vorstellen, wie qualvoll es für Nicholas wäre, sich wieder einem Arzt anzuvertrauen, aber sie wuÃte auch, wie lebenswichtig dies war. Sie hoffte, daà ihm ihre Abreise einen genügend groÃen Schock versetzt hatte, um diesen Schritt zu tun.
Ihre Flucht von Drakesden nach London erinnerte sie an jene andere Flucht vor zehn Jahren. Auch damals hatte sie ganz spontan gehandelt, ihre Entscheidung aber nie bereut. Als die Tage verstrichen, stellte sie eine Ruhe, einen geistigen Frieden an sich fest, den sie schon seit langem verloren zu haben glaubte. Manchmal, wenn sie das Land vermiÃte, die Arbeit, die sie zur Sicherung der Güter von Drakesden Abbey angefangen hatte, wuÃte sie, daà es andere Arbeit gab. Zudem waren ihre Errungenschaften reine Illusion gewesen. Immer hatte sie gegen das unverrückbare Hindernis ankämpfen müssen, das Nicholas und seine Mutter darstellten, gegen eine Mauer aus Tradition, mangelnder Weitsicht und Unfähigkeit zu Veränderung. Jetzt hatte sie wieder die Kontrolle über ihr Leben. Sie begann, die Stellenanzeigen in der Zeitung durchzusehen, und suchte nach einer Arbeit, die sie trotz des Kindes übernehmen konnte.
Lally bat Simon, sie noch einmal in den Klub in Soho zu führen. Simon hatte etwas gesagt, das sie nicht mehr loslieà und ihre Neugier anstachelte. Wozu sonst die Eile? Dein Bruder ist schlieÃlich ein so konventioneller Bursche . Sie fand, daà Simon recht hatte: Nicholasâ hastige EheschlieÃung mit Thomasine Thorne paÃte so gar nicht zu ihm.
Nachdem die Aufführung vorbei war, lieà sich Lally vom Manager des Klubs in die Garderobe der orientalischen Tänzerin führen. Der Manager erklärte ihr, daà der Name der Tänzerin Alice Johnson sei. Lally klopfte an die Tür und wurde hineingebeten.
Es war ein schäbiger kleiner Raum, nicht gröÃer als eine Besenkammer und spärlich von einer nackten Glühbirne beleuchtet. Zwei weitere Mädchen teilten die Garderobe mit Miss Johnson. Sie kämmten sich und hängten ihre grellbunten Kostüme auf Kleiderbügel.
Lally lächelte: »Wie schön, Sie zu sehen, Alice. Ich dachte, ich schau einfach mal rein.«
Alice drehte sich auf ihrem Hocker herum und blickte auf. Sie trug immer noch die Haremshose, das Leibchen, die hochgebogenen spitzen Pantoffeln. Den Turban hatte sie abgenommen, und das blonde Haar umrahmte ihr Gesicht. Lally stellte fest, daà Miss Johnsons Augen nicht dunkel waren, wie sie angenommen hatte, sondern blau. Das Blau war zu einem schmalen Ring um die groÃen schwarzen Pupillen geschrumpft.
»Wir kennen uns von Paris her«, fügte Lally fröhlich hinzu.
Die anderen Mädchen packten ihre Sachen zusammen. »Wir machen uns auf die Socken«, sagte eine, »und lassen dich in Frieden. Tschü-üs.« Die Tür schloà sich hinter ihnen.
»Paris?« fragte Alice unbestimmt.
Lally holte ihr Zigarettenetui heraus und hielt es Alice hin. »Ja. Wir haben eine gemeinsame Freundin â erinnern Sie sich nicht? Thomasine Thorne.«
»Thomasine?« Alice runzelte die Stirn. »Ich hab mich immer gefragt, was aus ihr geworden ist. Hab die Verbindung verloren. Wie gehtâs dem Kind? Was hat sie gekriegt?«
Die dunklen, leicht glasigen Augen richteten sich auf Lally, die einen Moment lang vollkommen verwirrt war. Wie gehtâs dem Kind? Was hat sie gekriegt? Zuerst dachte sie, Alice meine mit »dem Kind« Thomasine selbst, aber nein, das stimmte nicht. Dann dachte sie, Alice spräche von William. Aber das konnte auch nicht sein. Lallys Herz begann zu klopfen. Geheimnisse, dachte sie. Geheimnisse. Sie beobachtete Alice, die eine Flasche Gin aus ihrem winzigen
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