Die geheimen Jahre
wuÃte, daà ihr der Zorn ins Gesicht geschrieben stand, denn er zuckte zurück und wandte sich ab. Vorsichtig drückte sie William an ihre Schulter und ging die Einfahrt nach Drakesden Abbey hinauf.
Die Dienstboten starrten sie an, als sie ins Haus trat, verwundert über ihr zerrissenes schmutziges Kleid und ihr zerzaustes Haar. »Sir Nicholas hatte unten an der Einfahrt einen Autounfall«, erklärte sie dem Butler kurz angebunden. »Schicken Sie jemanden runter, der ihm hilft.« Dann stieg sie Treppe zum Kinderzimmer hinauf.
Dort zog sie gemeinsam mit Martha den Jungen aus, badete ihn, tupfte Arnika auf seine Wunden und verband seinen Ellbogen. Als Martha zögernd auch ihr Verbandszeug und Arnika anbot, schüttelte sie den Kopf.
»Füttere William bitte und laà ihn kurz ausruhen«, sagte sie zu Martha. »Dann zieh ihn für drauÃen an.«
In ihrem eigenen Zimmer packte Thomasine ihre Sachen. Einen kleinen Koffer, dachte sie. Mit dem Baby wäre sie nicht in der Lage, mehr zu tragen. Ein Kleid, einen Pullover, Nachthemd und Unterwäsche. Den Rest könnte sie sich nachschicken lassen. Kleider aus Seide und Satin, aus Samt und Chiffon würde sie nicht brauchen.
Sie warf ihren Waschbeutel in den Koffer und prüfte den Inhalt ihrer Handtasche. Sieben Shilling und drei Pence. In Nicholasâ Arbeitszimmer nahm sie eine Zehn-Pfund-Note aus dem Safe. Sie hatte keinerlei Schuldgefühle.
Wieder in ihrem Zimmer, zog sie ihren Mantel an und setzte ihren Hut auf. Als sie in den Spiegel blickte, um den Hut zurechtzurücken, sah sie die Wunde am Wangenknochen, die Kratzer am Kinn. Sie zog den Hutrand tiefer ins Gesicht, nahm ihren Koffer und ging ins Kinderzimmer.
Martha starrte sie an, als sie eintrat. »Ich fahre zu meiner Tante«, sagte sie. Ihre Stimme klang seltsam. »Ich würde dich mitnehmen, Martha, aber ich könnte deinen Lohn nicht bezahlen.«
William trug bereits Mantel, Stiefel und Mütze. Sie nahm ihn an der Hand, führte ihn die Treppe hinunter und aus dem Haus hinaus. Merkwürdig, wie leicht es am Ende war, Drakesden Abbey zu verlassen. Sie ging nicht die Einfahrt hinunter, sondern nahm den alten Weg: durchs Labyrinth, den Küchen- und den Obstgarten. Und dann durch das Wäldchen, wo sich auf dem Pfad das Laub mit der nassen Erde vermischte.
Sie hörte Nicholas ihren Namen rufen, als sie den Zauntritt erreichte. Geduldig blieb sie stehen und wartete auf ihn. Als er bei ihr angekommen war, sah sie die Tränen in seinen Augen. Sie sagte ihm, wohin sie gehen wollte und warum. Sie würde zu Antonia fahren, er habe das Leben ihres Kindes gefährdet, und das könne sie nicht zulassen. Dann drückte sie ihm Hildas Brief in die Hand, den Brief mit dem Namen und der Adresse des Londoner Psychiaters. »Wenn du ihn aufgesucht hast, komm mich besuchen«, fügte sie hinzu und half William über den Zauntritt. Sie wuÃte, daà sie das Richtige tat. Für Nicholas, für William und für sich selbst.
Dann ging sie über die Wiese, durchs Dorf und den Weg entlang. Wie sie alle glotzten. Doch als sie Drakesden hinter sich gelassen hatte und die StraÃe nach Ely einschlug, fühlte sie sich frei. Obwohl das müde Kind auf ihrem Arm lastete, obwohl der Koffer an ihrer schmerzenden Schulter zog, hatte sie das Gefühl, sich von einer schweren Bürde befreit zu haben.
Nach dem Unfall war Nicholas eine Woche krank. Bei dem Aufprall auf das Lenkrad hatte er sich zwei Rippen gebrochen, aber das war es nicht. Es war die Scham, das Gefühl des Verlusts, das BewuÃtwerden darüber, was er getan hatte.
Den Brief, den Thomasine ihm gegeben hatte, lieà er auf dem Schreibtisch seines Arbeitszimmers liegen. Mehrere Male griff er zu Papier und Feder und versuchte zu schreiben. Einmal schaffte er es, die Adresse auf einen Umschlag zu kritzeln. Aber die Vorstellung, was er diesem Fremden eingestehen müÃte, hielt ihn jedesmal wieder zurück, er legte die Feder weg und vergrub den Kopf in den Händen.
So saà er da, als seine Mutter eintrat. Er sah zu ihr auf und sagte: »Ich hätte sie töten können!« Seine Stimme klang heiser und verängstigt.
Lady Blythe erwiderte entschieden: »Unsinn, Nicky. An ein paar Schnitten und blauen Flecken stirbt man nicht.«
»Aber der Kleine  â¦Â« Nicholas konnte den Satz nicht beenden. Mit geschlossenen Augen sah er die Schreckensszene
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