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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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wieder vor sich. Den dumpfen Knall, als das Automobil gegen den Baum prallte, den schrecklichen Schrei, als er zu spät bremste, das Klirren des splitternden Glases. Sein keuchender Atem, als er sich übers Lenkrad krümmte. Das Gewahrwerden, daß die Beifahrertür aufgesprungen war. Er hatte beide für tot gehalten.
    Â»Der Unfall war sehr betrüblich, Nicky«, sagte seine Mutter. »Aber eines Tages wirst du vielleicht einsehen, daß er zum Besseren geführt hat.«
    Â»Mama …«
    Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Thomasine hat dir die Grenzen ihrer Loyalität gezeigt. Sie hat dir bewiesen, wieviel ihr Treueschwur ihr bedeutet. Sie hat dir gezeigt …«, sie sah auf ihn hinab, »wieviel du ihr wert bist, Nicky.«
    Die schrecklichen Bilder ließen nach, und er starrte seine Mutter an. Der Raum war dunkel und still, nur das Ticken der Standuhr und das Knistern der Flammen im Kamin waren zu hören. Er versuchte zu begreifen, was seine Mutter ihm sagen wollte, aber wegen des Schocks und der Erschöpfung konnte er nicht klar denken.
    Â»Du hast keine Verpflichtungen mehr ihr gegenüber. Ich werde einen Termin mit Mr. Linton vereinbaren, damit er vorbeikommt, um eine gesetzliche Trennung zu besprechen. Und zur gegebenen Zeit die Scheidung. Es ist abstoßend – in unserer Familie hat es nie eine Scheidung gegeben –, aber unvermeidlich.«
    Â»Anwälte?« flüsterte Nicholas. » Scheidung? Findest du, ich sollte mich von Thomasine scheiden lassen?« Er versuchte aufzustehen, aber seine Mutter drückte ihn auf den Stuhl zurück.
    Â»Ja, das finde ich, Nicky. Thomasine hat dich verlassen. Sie möchte die Ehe nicht fortsetzen.«
    Allmählich verstand er, daß seine Mutter recht hatte. Er machte Thomasine keinen Vorwurf, daß sie ihn loshaben wollte, daß sie ihn haßte. Die Bürde seiner Schuld war übermächtig, zermalmte ihn. Er hatte die Person verletzt, die er am meisten liebte.
    Er flüsterte: »Und das Kind?«
    Â»William wird natürlich hierher zurückkommen, Nicholas«, antwortete seine Mutter. »Die Anwälte werden sich um die Frage des Sorgerechts kümmern. William ist ein Blythe – es steht ganz außer Frage, daß er auf Drakesden Abbey aufwächst.«
    Sie ließ sich ihm gegenüber nieder. Noch immer redete sie weiter. Er versuchte zu verstehen, was sie sagte, aber die Anstrengung, sich zu konzentrieren, war fast zuviel für ihn.
    Â»Du warst noch sehr jung, Nicky. Fast noch ein Knabe. Du hast einen Fehler gemacht. Thomasine hat das eingesehen, und du mußt das auch. Du mußt sie gehenlassen. Sie möchte, daß du sie gehenläßt.«
    Er nickte langsam. Er konnte Thomasine nicht länger in einer Beziehung festhalten, die sie anwidern mußte. Sie gehenzulassen war das einzig Anständige, was er tun konnte.
    Â»Wir werden einen Neuanfang machen. Es wird wieder wie in alten Zeiten, Nicky. Genau wie vor dem Krieg.«
    Doch Mama täuschte sich. Vor dem Krieg war er ein intakter Mensch gewesen, ein Mann. Jetzt war er zerbrochen, in viele Scherben zersplittert, wie die Windschutzscheibe seines Wagens. Ein Schauder überlief Nicholas, seine Augen waren weit aufgerissen, aber er sah weder die Standuhr noch das Feuer.
    Liebenswürdig und großzügig wie immer, hatte Antonia Thomasine und William in ihrem Haus willkommen geheißen, lauthals ihre Verletzungen bedauert, Tee gekocht und ein warmes Feuer bereitet, damit sie sich erholen konnten.
    Sie stellte keine Fragen, aber als William in ihrem früheren Zimmer zu Bett gebracht war, versuchte Thomasine, ihr einiges zu erklären. Falls Antonia – die während ihrer kurzen Ehe eine angepaßte und gehorsame Gattin gewesen war und sich erst als Witwe erlaubte, ihren Ambitionen nachzugeben – Mißbilligung empfand, äußerte sie sie nicht.
    Eigentlich wollte Thomasine gleich am ersten Tag wieder ihre alten Pflichten übernehmen und Antonia bei der Buchhaltung und beim Unterricht helfen, aber sie wachte spät auf und konnte sich vor Schmerzen kaum rühren. Auch William schlief noch zusammengerollt neben ihr. Die Wunde an seiner Stirn erinnerte sie daran, weshalb sie hergekommen war. Mitten in der Nacht war sie in panischer Angst aufgewacht, unfähig zu atmen. Deutlich stand ihr ihre prekäre Lage vor Augen: Sie stellte sich gegen die Blythes mit all ihrem Geld, ihrem

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