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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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gelbbraunen Köpfe über dem schwarzen Boden.
    Mit Harrys Erlaubnis pflückte Daniel einen Strauß davon. Taktvoll ging Harry zum Cottage zurück und ließ Daniel allein mit den Blumen in der Hand am Rand des Felds stehen. Als er zum Deich hinübersah, fiel ihm die Vernachlässigung auf den angrenzenden Feldern auf: das Riedgras, das die Gräben verstopfte, der bröckelige Rand des Deichs. Disteln und Mohn breiteten sich zwischen den stoppeligen Überresten des Weizens aus. Der Anblick freute ihn nicht mehr so, wie es früher vielleicht der Fall gewesen wäre. Er wandte sich ab, denn der Blick auf die verdorbene Ernte, über die der eisige Wind hinwegfegte, hatte seine innere Unruhe noch verstärkt.
    Mit den Blumen im Arm ging er zum Kirchhof. Den Kragen seines Armeemantels hatte er ums Gesicht gezogen. Als er das Tor aufstieß und unter den Eiben durchging, wußte er, daß er nicht allein war.
    Nicholas Blythe, dessen Silhouette sich vor dem trüben Himmel abzeichnete, stand bewegungslos neben einem der Grabsteine. Die Blythes besaßen ein eigenes Stück Grund auf dem Friedhof: Ihre Gräber waren prunkvoll, Ausdruck ihrer Stellung im Dorf. Daniel wußte nicht, ob Nicholas sein Kommen bemerkt hatte.
    An Fays Grab kniete er nieder und lehnte den Strauß Chrysanthemen an den Grabstein. Während er das Unkraut auszupfte, betete er nicht, sondern murmelte das Lied, das ihm inzwischen im Zusammenhang mit Fay immer einfiel: »›Fürchte nicht mehr Flammenblitze, Zittre nicht vorm Donnerschlage; Stumpf ist der Verleumdung Spitze; Dir verstummt jetzt Lust und Klage‹.«
    Der furchtbare Schmerz und die Schuldgefühle, die ihn während der Wochen nach ihrem Tod schier erdrückt hatten, kehrten nicht wieder. Er sah ihren Tod jetzt als das, was er war: die entsetzliche Vergeudung eines jungen, strahlenden menschlichen Lebens. Zum erstenmal erschien ihm Fays Tod wie die Nachwehen eines größeren Verbrechens, jenes einen, das in den Jahren zwischen 1914 und 1918 sein Leben und das so vieler anderer zerstört hatte. Seine Ehe mit Fay war nicht zuletzt ein verzweifelter Versuch gewesen, zurückzugewinnen, was er in den Kriegsjahren verloren hatte: seine Jugend und seinen Optimismus. Und Fay hatte womöglich Cecilia Morris’ Schicksal entgehen wollen und lieber ihn geheiratet, als eine der vielen sitzengebliebenen Frauen zu werden. Ihre Ehe, hervorgegangen aus der Unfähigkeit, sich der Vergangenheit zu stellen, und gleichzeitiger Angst vor der Zukunft, hatte vielleicht nie große Chancen gehabt.
    Als er aufstand, sah er auf die andere Seite des Kirchhofs zu Nicholas Blythe hinüber. Nicholas hatte sich nicht bewegt. Er wirkte wie aus schwarzem Marmor gemeißelt, wie einer der Steinengel, die ihn umgaben. Daniel holte tief Luft und ging auf ihn zu.
    Â»Sir Nicholas.«
    Als Daniel seinen Namen aussprach, zuckte Nicholas Blythe zusammen und schien mit einem Ruck in die Gegenwart zurückzukehren. Seine dunklen Augen richteten sich auf Daniel.
    Â»Gillory.« Ein kurzes Nicken seines Kopfes.
    Daniel steckte die Hände in seine Manteltaschen, runzelte die Stirn und suchte nach Worten. »Scheußliches Wetter«, sagte er schließlich, da ihm nichts Besseres einfiel.
    Nicholas blinzelte. »Ich warte immer noch auf Regen. Es war so trocken. Und Regen scheint immer das richtige zu sein für einen Friedhof, nicht?«
    Dieser zögerliche Dialog, dachte Daniel, war die höflichste Unterhaltung, die er und Nicholas Blythe seit Jahren geführt hatten. Daniel sah auf den Grabstein, vor dem Nicholas Blythe stand. Er bestand aus poliertem schwarzem Marmor, und wie bei allen der neueren Familiengräber waren entlang des Rands Lorbeerkränze eingemeißelt. Die Inschrift lautete: »Gerald William Blythe, 1896–1914.«
    Â»Ihr Bruder?« sagte Daniel. »Bei Mons, nicht? Armer Kerl.«
    Nicholas starrte auf den Grabstein. »Oh, ich weiß nicht. Manchmal denke ich, es war leichter für den alten Gerry. Er hat’s hinter sich.«
    Daniel konnte nicht antworten. Er hörte Thomasine sagen: Nicholas hat Neurasthenie . Beim Blick auf ihn sah er, wie sehr er in den letzten drei Jahren gealtert war. Die Falten, die sich um Mund und Augen eingegraben hatten, verliehen ihm eher das Aussehen eines Mannes Ende Dreißig als Ende Zwanzig. In den dunklen Locken an den Schläfen zeigten sich bereits ein paar silberne

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