Die geheimen Jahre
an, alter Junge. Es ist verdammt kalt.«
Er sah Nicholas beim Trinken zu. Tausend Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf: eine Mischung aus Bedauern, Mitleid, Verständnis. In Nicholasâ Wangen kehrte ein wenig Farbe zurück, als er trank. Daniel hob Jacke und Mantel vom Boden auf und reichte ihm beides.
»Es wird besser«, sagte er, als er Nicholas in die Jacke half. »Ehrlich. Ich war in einem hoffnungslosen Zustand, als ich aus Frankreich zurückkam. Konnte in keine U-Bahn steigen. Ich erinnere mich, daà ich mich gezwungen habe, eine Station weit zu fahren â von Knightsbridge nach Kensington â, und in Panik geraten bin. Ich muÃte mich aus dem Zug buchstäblich nach drauÃen werfen. Die Leute dachten, ich sei betrunken. Deswegen bin ich hierher zurückgekehrt. In East Anglia kriegt man keine klaustrophobischen Anfälle, nicht? Jetzt gehtâs mir aber viel besser. Vor ein paar Monaten muÃte ich für meine Arbeit in einen Stollen einfahren. Es war schrecklich, aber ich habâs getan.«
Nicholas sagte plötzlich: »Ich lese gerade Ihr Buch.«
»Ach ja?« antwortete Daniel verblüfft. »Wie finden Sie es?«
»GroÃartig. Sie waren immer schon ein kluger Bursche, stimmtâs?«
Daniel grinste. Einen Moment lang schwiegen beide.
»Also finden Sie, es spielt keine Rolle?« fragte Nicholas.
»Was Sie getan haben?« Daniel sah Nicholas in die Augen und begann zu verstehen, wie die Schuldgefühle im Laufe des vergangenen Jahrzehnts in ihm gegärt hatten. Wie sie sein Leben erschwert, sein Gemüt vergiftet und nicht zugelassen hatten, daà er die Schrecken des Krieges vergaÃ. »Nicht die geringste«, antwortete er entschieden und aufrichtig. »Viele von uns hätten das gleiche getan, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätten.«
Der Wind heulte über das ferne Netzwerk aus Gräben und Wasserläufen. Eine Schar Stare, schwarze Punkte an einem bleiernen Himmel, flog über die Felder.
»Wir waren sehr jung«, fügte Daniel zögernd hinzu. »Vielleicht würden wir alles anders machen, wenn wir die Gelegenheit dazu hätten, aber ⦠es ist zu spät, nicht wahr? Ich weiÃ, daà das, was 1914 geschehen ist â mit Lally und Ihrer Mutter â, alles für mich verändert hat. Es hat mich so bitter gemacht. Und dann der Krieg â¦Â« Seine Stimme brach ab, verlor sich im Heulen des Windes.
»Lally?«
Daniel runzelte die Stirn und zuckte die Achseln. »Heute erscheint alles so banal, nicht wahr? Bloà ein KuÃ. Wir waren schlieÃlich noch Kinder. Aber ich verstehe, was Lady Blythe gedacht haben muÃte.«
Beim Aufsehen dachte er einen Augenblick lang, Nicholas sei verärgert. Aber dann stellte er fest, daà es kein Ãrger, sondern Verwirrung war, die in seinen Augen geschrieben stand.
»Sie haben Lally geküÃt?«
Daniel schüttelte den Kopf. »Nein. Lally küÃte mich.«
Lally Blythe hatte ihn zweimal geküÃt, erinnerte er sich. Und plötzlich wuÃte er, daà keiner der Küsse harmlos gewesen war. »Das wuÃten Sie nicht?« fragte er neugierig.
Nicholas sah ihn verständnislos an. »Nein. Ich wuÃte, daà Sie an dem Tag in der Abbey waren ⦠deswegen dachte ich, Sie hätten den Feuerdrachen genommen.«
»Nun, das habe ich nicht. Ich hab das verdammte Ding nie gesehen.«
»Erzählen Sie mir, was passiert ist«, bat ihn Nicholas mit drängender Stimme. »Erzählen Sie mir alles.«
Daniel erzählte es ihm. Wie sein Vater ihn geschlagen und ihm gesagt hatte, er könne nicht mehr zur Schule gehen. Wie er nach Quince Cottage rannte, um Thomasine zu suchen, die aber nicht dort war. Wie er annahm, daà sie bei Nicholas war und ihm vor Verzweiflung und Eifersucht ganz schlecht wurde. Wie er nach Drakesden Abbey lief und Lally im Obstgarten traf. Wie das Gewitter kam. Fürchte nicht mehr Flammenblitze, Zittre nicht vorm Donnerschlage . Wie Lally ihn in den Geräteschuppen gezogen, die Wunde an seiner Stirn berührt und ihre Lippen auf die seinen gepreÃt hatte â¦
Ihre Zunge, die sich in seinen Mund wühlte. Ich hab ein Geheimnis, verstehst du? Soll ich es dir verraten? Davon erzählte er Nicholas Blythe, Lallys Bruder, natürlich nichts.
»Und Mama ist gekommen?« fragte Nicholas, nachdem Daniel geendet hatte.
Er nickte. »Im
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