Die geheimen Jahre
der scharfe Novemberwind zerrte an ihren Kleidern. Daniel hatte einen langen Mantel und Stiefel an, die Brille, die er beim Motorradfahren trug, hing um seinen Hals.
»Können wir reingehen?«
»Ich brauch ein biÃchen frische Luft. In einer Viertelstunde kommt die nächste Schülerin.« Sie wich seinem Blick aus. Sie wollte nicht, daà er reinkam, weil es hier drauÃen sicherer war. Leichter, ihn auf Abstand zu halten.
Er sah sie argwöhnisch an. »Dann in den Pub?«
»Dafür ist keine Zeit. AuÃerdem hab ich meine Ballettschuhe an. Alle würden mich anstarren.« Sie war müde und miÃgelaunt. Während der letzten Jahre hatte sie sich eigenes Leben aufgebaut, ein anstrengendes, schwieriges Leben vielleicht, aber es gehörte ihr, und sie lieà es sich von keinem durcheinanderbringen, auch von Daniel Gillory nicht.
Er schwieg. Der Wind fegte durch das Laub im Rinnstein und wirbelte den Staub auf. Thomasine zog ihre Jacke enger um sich und versuchte, ihre Gelassenheit wiederzugewinnen.
Daniel lächelte flüchtig. »Es sieht nach zehn Minuten auf der Türschwelle aus, nicht wahr? Komm her.«
Er legte die Arme um sie. Der dicke Stoff seines Mantels schützte sie beide vor dem Wind. Als sie sich küÃten, vergaà sie ihre Sorgen für eine Weile. Sie stellte fest, daà sie ihn begehrte, wie sie einst Clive, aber wahrscheinlich niemals Nicholas begehrt hatte. Dennoch rià sie sich von ihm los und fragte leichthin: »Wie war Yorkshire?«
Er runzelte die Stirn. »Kalt. Voller Elend. Ich bin froh, daà ich nichts mehr davon sehen muÃ.«
»Hast du deinen Artikel beendet?«
»Fast. Wenn ich mich in meiner Wohnung einschlieÃe und ein Schweigegelübde ablege, dürfte er in einem Monat fertig sein.« Sie sah, daà kein Funken von Frohsinn in seinen Augen blitzte. In der Dämmerung wirkten sie kalt und funkelten graugrün.
»Ich hatte eine sehr anstrengende Woche. Zwei der jüngeren Buchhalter waren krank, und ich muÃte neben meiner auch noch ihre Arbeit erledigen. Und eine ganze Schar kleiner Mädchen hat beschlossen, Tanzstunden zu nehmen. Fünf von ihnen gleichzeitig eine Stunde lang in dem kleinen Salon â¦Â«
»Hör auf! Um Himmels willen, hör auf!« Unwirsch unterbrach Daniel ihren Schwall von Banalitäten. Seine Hände glitten von ihren Schultern herab. »Wenn du mich loshaben willst, Thomasine, dann sag mir, daà ich Leine ziehen soll. Es wäre mir lieber, wenn du aufrichtig zu mir wärst. Wenn du mich satt hast, dann sagâs mir.«
In seinen Augen stand Schmerz. Krampfhaft suchte sie nach Worten â vergeblich. Seit Jahren hatte sie niemandem ihr Herz geöffnet â wie konnte sie die schützenden Schichten ablegen und ihm nackt und ungeschützt gegenübertreten?
Sie lieà es bei Halbwahrheiten bewenden. »Das ist es nicht, Daniel. Es ist bloà so, daà ich im Moment sehr hart arbeite und offensichtlich keine Kraft für etwas anderes habe. Jeden Morgen stehe ich um halb sieben auf und schufte bis neun Uhr abends. Und dann muà ich meine Haare waschen, Näharbeiten machen und Briefe schreiben. Neulich bin ich beim Strümpfestopfen eingeschlafen. Erst als ich mir die Nadel in den Finger gestochen habe, bin ich aufgewacht.«
Er stand im Schutz des Hauseingangs und lehnte sich an den Türpfosten, etwas versöhnlicher jetzt. »Du sparst, damit du einen Anwalt bezahlen kannst, um William zurückzubekommen?« fragte er.
»Ja.« Der Wind blies durch die Maschen ihrer Jacke, und der Gehsteig fühlte sich eisig an unter den dünnen Sohlen ihrer Ballettschuhe.
»Bei wie vielen bist du schon gewesen?«
»Bei dreien. Sir Alfred Duke wird der vierte sein.«
»Wenn du schon bei dreien gewesen bist«, sagte Daniel knapp und nüchtern, »und sie dir nicht helfen konnten, hat es dann Sinn, einen vierten aufzusuchen?«
Erneut wich sie seinem Blick aus. Er sprach ihre gröÃte Angst aus: die Angst, die sie oft mitten in der Nacht hochschrecken lieÃ. Daà sie verloren hatte, sich nicht mehr wehren konnte. Zuversicht vorspiegelnd, die sie nicht besaÃ, antwortete sie: »Sir Alfred Duke wurde mir empfohlen. Er soll bei schwierigen Fällen äuÃerst geschickt sein.«
Schweigen. Sie fürchtete sich vor dem, was er als nächstes sagen würde, daà er ihre vagen Hoffnungen zerstören und
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