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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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der scharfe Novemberwind zerrte an ihren Kleidern. Daniel hatte einen langen Mantel und Stiefel an, die Brille, die er beim Motorradfahren trug, hing um seinen Hals.
    Â»Können wir reingehen?«
    Â»Ich brauch ein bißchen frische Luft. In einer Viertelstunde kommt die nächste Schülerin.« Sie wich seinem Blick aus. Sie wollte nicht, daß er reinkam, weil es hier draußen sicherer war. Leichter, ihn auf Abstand zu halten.
    Er sah sie argwöhnisch an. »Dann in den Pub?«
    Â»Dafür ist keine Zeit. Außerdem hab ich meine Ballettschuhe an. Alle würden mich anstarren.« Sie war müde und mißgelaunt. Während der letzten Jahre hatte sie sich eigenes Leben aufgebaut, ein anstrengendes, schwieriges Leben vielleicht, aber es gehörte ihr, und sie ließ es sich von keinem durcheinanderbringen, auch von Daniel Gillory nicht.
    Er schwieg. Der Wind fegte durch das Laub im Rinnstein und wirbelte den Staub auf. Thomasine zog ihre Jacke enger um sich und versuchte, ihre Gelassenheit wiederzugewinnen.
    Daniel lächelte flüchtig. »Es sieht nach zehn Minuten auf der Türschwelle aus, nicht wahr? Komm her.«
    Er legte die Arme um sie. Der dicke Stoff seines Mantels schützte sie beide vor dem Wind. Als sie sich küßten, vergaß sie ihre Sorgen für eine Weile. Sie stellte fest, daß sie ihn begehrte, wie sie einst Clive, aber wahrscheinlich niemals Nicholas begehrt hatte. Dennoch riß sie sich von ihm los und fragte leichthin: »Wie war Yorkshire?«
    Er runzelte die Stirn. »Kalt. Voller Elend. Ich bin froh, daß ich nichts mehr davon sehen muß.«
    Â»Hast du deinen Artikel beendet?«
    Â»Fast. Wenn ich mich in meiner Wohnung einschließe und ein Schweigegelübde ablege, dürfte er in einem Monat fertig sein.« Sie sah, daß kein Funken von Frohsinn in seinen Augen blitzte. In der Dämmerung wirkten sie kalt und funkelten graugrün.
    Â»Ich hatte eine sehr anstrengende Woche. Zwei der jüngeren Buchhalter waren krank, und ich mußte neben meiner auch noch ihre Arbeit erledigen. Und eine ganze Schar kleiner Mädchen hat beschlossen, Tanzstunden zu nehmen. Fünf von ihnen gleichzeitig eine Stunde lang in dem kleinen Salon …«
    Â»Hör auf! Um Himmels willen, hör auf!« Unwirsch unterbrach Daniel ihren Schwall von Banalitäten. Seine Hände glitten von ihren Schultern herab. »Wenn du mich loshaben willst, Thomasine, dann sag mir, daß ich Leine ziehen soll. Es wäre mir lieber, wenn du aufrichtig zu mir wärst. Wenn du mich satt hast, dann sag’s mir.«
    In seinen Augen stand Schmerz. Krampfhaft suchte sie nach Worten – vergeblich. Seit Jahren hatte sie niemandem ihr Herz geöffnet – wie konnte sie die schützenden Schichten ablegen und ihm nackt und ungeschützt gegenübertreten?
    Sie ließ es bei Halbwahrheiten bewenden. »Das ist es nicht, Daniel. Es ist bloß so, daß ich im Moment sehr hart arbeite und offensichtlich keine Kraft für etwas anderes habe. Jeden Morgen stehe ich um halb sieben auf und schufte bis neun Uhr abends. Und dann muß ich meine Haare waschen, Näharbeiten machen und Briefe schreiben. Neulich bin ich beim Strümpfestopfen eingeschlafen. Erst als ich mir die Nadel in den Finger gestochen habe, bin ich aufgewacht.«
    Er stand im Schutz des Hauseingangs und lehnte sich an den Türpfosten, etwas versöhnlicher jetzt. »Du sparst, damit du einen Anwalt bezahlen kannst, um William zurückzubekommen?« fragte er.
    Â»Ja.« Der Wind blies durch die Maschen ihrer Jacke, und der Gehsteig fühlte sich eisig an unter den dünnen Sohlen ihrer Ballettschuhe.
    Â»Bei wie vielen bist du schon gewesen?«
    Â»Bei dreien. Sir Alfred Duke wird der vierte sein.«
    Â»Wenn du schon bei dreien gewesen bist«, sagte Daniel knapp und nüchtern, »und sie dir nicht helfen konnten, hat es dann Sinn, einen vierten aufzusuchen?«
    Erneut wich sie seinem Blick aus. Er sprach ihre größte Angst aus: die Angst, die sie oft mitten in der Nacht hochschrecken ließ. Daß sie verloren hatte, sich nicht mehr wehren konnte. Zuversicht vorspiegelnd, die sie nicht besaß, antwortete sie: »Sir Alfred Duke wurde mir empfohlen. Er soll bei schwierigen Fällen äußerst geschickt sein.«
    Schweigen. Sie fürchtete sich vor dem, was er als nächstes sagen würde, daß er ihre vagen Hoffnungen zerstören und

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