Die geheimen Jahre
Fäden.
Nicholas fügte hinzu: »Ich glaube, ich komme nie darüber hinweg. Jedenfalls nicht, bevor ich still und ruhig auf dem Kirchhof von Drakesden liege.« Das sagte er in ganz gelassenem, beiläufigem Tonfall. »Sie waren auch in der Armee, nicht wahr, Gillory?«
Daniel nickte. »Beim Londoner Regiment der Königlichen Füsiliere. Ich war Captain im dritten Bataillon.«
»Waren Sie oft in Kampfgeschehen verwickelt?«
»An der Somme«, antwortete Daniel, »und in Passchendaele.«
Es war seltsam, Ende 1926 auf dem Friedhof von Drakesden mit Nicholas Blythe diese Unterhaltung zu führen. Es war, als hätten sie fast ein Jahrzehnt ausgelassen, als hätten diese Worte vor vielen Jahren gesprochen werden müssen, und dies versäumt zu haben hatte ihnen beiden geschadet.
Er wuÃte auch, daà er sich ein wenig weiter vorwagen muÃte. »Ich weiÃ, was Sie meinen, daà man es nie mehr los wird.« Seine Stimme klang heiser, fast schroff vor Anstrengung. »Passchendaele war schlimm.«
Wieder richtete sich Nicholasâ Blick auf ihn. In seinen Augen stand mitunter eine Leere, die Daniel beunruhigte. Es war fast so, als wäre er dafür verantwortlich, Nicholas Blythe in die Wirklichkeit zurückgerissen zu haben.
»Ich war lebendig begraben«, erklärte Daniel. »Ein verdammter Mörser fiel auf unseren Unterstand. Ich weià nicht, wie lange ich dort drin war. Niemand wuÃte es. Alles war durcheinander. Ich hatte das Gefühl, Tage â sogar Wochen â verloren zu haben. Und später konnte ich geschlossene Räume nicht ertragen. Wenn ich eingesperrt war â im Dunkeln â, kam jedesmal alles wieder zurück. Und ich hatte so schreckliche Träume.«
Nicholas starrte ihn inzwischen offen an. Seine Hände in den schwarzen Lederhandschuhen zitterten.
»Und Sie?« fragte Daniel.
Nicholas nannte sein Regiment. Dann fügte er hinzu: »Man hat mich mit dem Militärverdienstkreuz ausgezeichnet. Das hätte man nicht tun sollen, wissen Sie.«
Als er Nicholas Blythe ansah, drehte sich Daniel fast der Magen um. Nicholas zog Mantel und Jacke aus und krempelte die Hemdsärmel hoch. »Schauen Sie«, sagte er und streckte die Arme mit nach oben gerichteten Handflächen vor ihm aus.
Auf den gebräunten Unterarmen hatten sich von den Händen bis zu den Ellbogen dünne weiÃe Linien eingegraben. Zahllose, ungleichmäÃige Narben.
»Das hab ich getan, verstehen Sie?« sagte Nicholas.
Einen Moment lang verstand Daniel nicht, was er meinte. Dann begriff er, und ihm stockte der Atem. Er wollte flüchten, fort aus dem Kirchhof, fort aus Drakesden. Er wollte die Geheimnisse seines Feindes nicht wissen. Er wollte nicht wissen, daà sein Feind fehlbar, geschädigt war.
Aber er wuÃte, daà er nicht fortgehen konnte. Aus welchem Grund auch immer Nicholas Blythes zerstörter Geist seine Geheimnisse offenbart hatte â sie waren ein kostbares Geschenk, das mit Respekt angenommen werden muÃte.
Daniel erriet: »Sie haben sich selbst verstümmelt. Damit Sie nach Hause durften.«
Nicholas nickte. »So.« Seine Arme hantierten mit einem unsichtbaren Gegenstand. »An dem Stacheldraht. Siebzig Stiche, sagten mir die Ãrzte. Ich hab mich fast in Fetzen gerissen. Ich war der einzige aus meinem Bataillon, der überlebt hat. Finden Sie, daà ich mein Militärverdienstkreuz zurückgeben sollte?«
Daniel versuchte aufzunehmen, was Nicholas ihm erzählt hatte. Er schaffte es, den Kopf zu schütteln. »Natürlich nicht«, antwortete er und zwang sich, überzeugend, nicht verurteilend zu klingen, während ein Teil des altvertrauten Zorns in ihm aufstieg. Doch diesmal richtete sich der Zorn nicht gegen Nicholas Blythe, sondern gegen diejenigen, die für den Krieg verantwortlich waren â die Politiker, die Generäle, die Profiteure. Die alten Männer. Er sagte schlicht: »Jeder, der dort war, war ein Held. Jeder, der in einem Graben schlief, während Ratten über ihn hinwegrannten, jeder, der Giftgas eingeatmet hat, jeder, der gesehen hat, wie sein Freund über den Haufen geschossen wurde, war ein Held. Wir hätten alle Orden kriegen sollen.« Er griff in seine Tasche und holte einen Flachmann mit Whisky heraus. Er zog den Stöpsel heraus und bot Nicholas davon an. »Trinken Sie einen Schluck. Und ziehen Sie Ihren Mantel wieder
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