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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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ungünstigsten Moment. Und weil ich fast drei Jahre älter als Lally … und einer der Dorfjungen war … muß sie gedacht haben … Ich kann es ihr eigentlich nicht verdenken. Also, wie auch immer, sie befahl Mr. Fanshawe, mir nicht mehr mit der Schuluniform zu helfen, und das war’s dann. Jetzt spielt es keine Rolle mehr.«
    Er stellte fest, daß dies die Wahrheit war. Es spielte keine Rolle mehr. Er hatte es überwunden. Er hatte eine Zukunft.
    Und ein Teil dieser Zukunft, so hoffte er, war Thomasine. Plötzlich fiel ihm wieder ein, warum er über den Friedhof gegangen war und Nicholas angesprochen hatte.
    Â»Ich wollte mit Ihnen über Thomasine reden. Ich sehe sie gelegentlich in London.«
    Nicholas, der zu Boden gebeugt war, zuckte plötzlich in die Höhe. »Wirklich. Geht es ihr … gut?«
    Â»Ihr geht’s ganz gut. Sie ist allerdings ziemlich erschöpft.« Er holte tief Luft, kam gleich zur Sache, obwohl er wußte, daß er vielleicht alles schlimmer statt besser machte, dennoch fürchtete er die Folgen, wenn er es nicht versuchte.
    Â»Die Sache ist die, ich wollte bloß sagen … ich weiß, daß es mich nichts angeht und daß Sie das Recht haben, mich abzuweisen, aber, nun ja – sie vermißt ihr Kind so sehr, wissen Sie. Soweit ich weiß, lassen Sie nicht zu, daß sie den Jungen wiederbekommt, aber vielleicht könnten Sie erlauben, daß sie ihn öfter sieht … das könnte helfen … alles …«
    Â»William? Reden wir über William?« Nicholas rieb sich die Augen. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Gillory. Daß sie den Jungen wiederbekommt? Thomasine überließ mir freiwillig das Sorgerecht für meinen Sohn. Sie wußte, daß ich ihm ein besseres Leben bieten konnte.«
    Jetzt war es an Daniel, verständnislos dreinzusehen. »So war es nicht ganz, das steht fest … Sie gibt ein Vermögen für Anwälte aus, um eine Möglichkeit zu finden, ihn zurückzubekommen. Arbeitet Tag und Nacht.«
    Die Verwirrung auf Nicholas Blythes Gesicht, dachte Daniel, spiegelte wahrscheinlich seine eigene wider. Plötzlich schoß ihm das Wort Geheimnisse durch den Kopf. Mit den Blythes zu reden war wie durch das Labyrinth auf Drakesden Abbey zu gehen. Ein dunkler Gang hier, eine verschlossene Tür dort. Zweige darüber, die das Sonnenlicht abhielten. Schlingpflanzen um die Füße, die einen zu Fall brachten.
    Â»Vergessen Sie’s«, sagte Daniel plötzlich. »Ich hätte nichts sagen sollen.« Ein Gefühl des Unbehagens stieg in ihm auf.
    Aber Nicholas erwiderte: »Ich werde mit Mama darüber sprechen. Versuchen, die Sache zu klären. Richten Sie Thomasine aus, sie soll sich keine Sorgen machen, Gillory.«
    Daniel wußte nicht, ob Nicholas’ Lächeln aufrichtig war. Aber er nickte, drehte sich auf dem Absatz um und begann, sich von den moosbewachsenen Gräbern der Blythes zu entfernen.
    Als er die Eiben erreicht hatte, hörte er Nicholas rufen: »Ich liebe sie, müssen Sie wissen, Gillory! Ich konnte nicht mit ihr leben, und ich kann nicht ohne sie leben.«
    Doch als er sich umdrehte, war Nicholas bereits fort, er kletterte über die Mauer am Rand des Kirchhofs und stieg den flachen Hang der Insel hinauf.
    Auf dem Heimweg hatte Nicholas das Gefühl, von einer schweren Last befreit zu sein. Zuerst war es ihm unbegreiflich, warum er ausgerechnet Daniel Gillory erzählen konnte, was er sonst niemandem anvertrauen mochte, nicht einmal David Franks. Seine Verwunderung hielt während des ganzen Aufstiegs und den ganzen Weg durch den verwilderten Garten an. Wo einst der Tennisplatz gewesen war – wo er und Daniel Gillory sich einst geprügelt hatten –, blieb er stehen.
    Es lag daran, wurde ihm plötzlich klar, weil nur Daniel Gillory ihn verstehen konnte. Weder Mama noch seine Schwester, noch Thomasine hätten es verstanden, weil sie Frauen waren. David, der wegen seines Asthmas für untauglich befunden worden war, hätte es nicht verstanden, weil er die Kriegsjahre beim Studium in Wien verbracht hatte. Und niemand von seinen Schulfreunden, die überlebt hatten, hätte es verstanden, weil ein ehemaliges Mitglied des Winchester College nicht tat, was Nicholas getan hatte.
    Auf dem Ast einer Buche am Rand der sogenannten Wildnis sitzend, rieb er sich die Stirn und versuchte, sich über alles klarzuwerden.

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