Die geheimen Jahre
am oberen Ende der Treppe von Drakesden Abbey: Komm, zieh Leine, Lally. Geh weg .
Leise sagte Thomasine: »Du hast ihn genommen, nicht wahr?«
Lallys schräge Augen richteten sich auf sie. »Wen genommen?«
»Den Feuerdrachen.«
Als Lally nickte, bemerkte Thomasine, daà sie den Atem anhielt. Als sie ausatmete, hörte es sich an wie ein Seufzer.
»Ich wollte ihn Daniel zeigen. Er war mein Lieblingsstück. Ich wollte ihn ihm geben. Dann wäre er für immer mein Freund gewesen.«
Thomasine dachte an all das Leid, das daraus entstanden war: Sie muÃte aus Drakesden fort, Daniel muÃte Schule und Zuhause aufgeben, Lally wurde aus dem Internat geworfen. Und danach die endlose Verkettung von Eifersucht, Liebe und HaÃ, die ihr Leben mehr als ein Jahrzehnt lang bestimmt hatte.
»Nicky hat den Safe offengelassen. Das hab ich beobachtet, weiÃt du. Es war niemand da â Mama war fort, das Personal war beschäftigt, also hab ich ihn genommen. Es war leicht.«
»Aber was ist damit geschehen? « Thomasine vergaà fast, leise zu sprechen. »Du hast ihn doch Daniel nicht gegeben. Hast du ihn verloren?«
Lally schloà die Augen. Sie sah sehr müde aus. »Ich hab nach euch gesucht. Ich hab die Köchin gefragt, und sie hat gesagt, ihr würdet ein Picknick machen. Ich dachte, Daniel sei bei dir und Nicky. Ihr wart doch immer zu dritt.«
Thomasine, Nicholas und Daniel. Sie ritten die langen staubigen Wege entlang oder lagen unter den Rosen im ummauerten Garten und tranken Wein aus einer Flasche, die zwischen dem Farn versteckt war â¦
»Ich sah dich und Nicky auf der Koppel reiten. Also ging ich hinunter und hab euch zugesehen. Aber dann tauchte plötzlich Mama auf â¦Â«
»Lady Blythe kam früher zurück«, erinnerte sich Thomasine, »weil der Krieg ausgebrochen war.«
»Ich hatte Angst, Mama könnte mich gesehen haben, also versteckte ich den Feuerdrachen im Gras. Ich hatte keine Tasche in meinem Kleid, verstehst du, und Mama wäre böse gewesen, wenn sie herausgefunden hätte, daà ich ihn genommen habe. Und dann habe ich Daniel getroffen.«
»Ich weiÃ, er hatâs mir erzählt. Lady Blythe hat dich überrascht, als du ihn geküÃt hast. Sie muà auÃer sich gewesen sein â¦Â«
»Das war sie«, sagte Lally selbstgefällig. Ihre Augen waren wieder geöffnet, dunkel glühend und leicht zusammengekniffen, erinnerten sie für einen Moment wieder an die alte Lally. »Und dann bekam ich einen hysterischen Anfall, und Mama brachte mich ins Bett. Und als ich am nächsten Tag den Feuerdrachen suchte, konnte ich ihn nicht mehr finden. Ich hatte ihn unter einem Grasbüschel auf der Koppel versteckt, aber ich konnte mich einfach nicht mehr genau erinnern, wo. Stundenlang hab ich gesucht, konnte aber die Stelle nicht mehr finden. Mama dachte, du hättest ihn gestohlen. Ich behauptete, ich hätte ihn nicht gesehen, und sie wuÃte, daà Daniel ihn nicht hatte, weil ich sagte, daà er die ganze Zeit bei mir gewesen sei.«
Lallys Stimme war so leise geworden, daà sie kaum mehr zu verstehen war. Lady Blythes Rosen verströmten einen starken Duft in der Nachmittagssonne.
Thomasine flüsterte: »Aber hättest du deiner Mutter nicht die Wahrheit sagen können?«
»Warum sollte ich? Ich haÃte dich.«
Thomasine erschauderte bei Lallys ungeschminkter Antwort. Es irritierte, blankem Haà zu begegnen: Im normalen gesellschaftlichen Umgang wurde er bezähmt und versteckt oder zu Kriegshandlungen ritualisiert. Aber bei Lally war der gesellschaftliche Firnis immer dünn gewesen, eine brüchige Schicht, die notdürftig ihre Rücksichtslosigkeit bedeckte. Simon Melville hatte gesagt: »Gott steh einem bei, wenn sie ihre Krallen ausfährt.« Das hatte Lally schon vor Jahren im Garten von Drakesden Abbey getan.
»Warum?«
»Du hast alles gehabt. Du durftest allein ausgehen und warst hübsch. Du warst nicht fett und hast dich vor allem gefürchtet. Nicky und Daniel mochten dich. Wenn du nicht gewesen wärst, wären sie meine Freunde gewesen. Es war nicht gerecht.«
Thomasine stand auf. Plötzlich konnte sie die Stille auf der Veranda, die reglosen Patienten in ihren Betten, das gedämpfte Klappern der Stricknadeln der Schwester und das vereinzelte Husten nicht mehr aushalten. Vom Rand der Veranda sah sie auf das Grün
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