Die geheimen Jahre
»Du darfst es nicht ablehnen.«
Als sie aus der Tür und den Weg hinabgingen, sagte sie plötzlich: »Ich bringe William das Reiten bei, Daniel. Wir leihen uns vom Pfarrer das Pony aus. William hat kein biÃchen Angst.«
Daniels Lächeln lieà seine Augen aufblitzen. »Wie seine Mutter.«
In dem Moment wuÃte sie, daà eine stille Kommunikation zwischen ihnen stattfand, auch wenn keiner von ihnen die richtigen Worte gefunden hatte. Es bestand die Möglichkeit, dachte sie, daà Zeit und Geduld vielleicht die schlimmsten Wunden heilten. Das milde Abendlicht und die Blumenteppiche am Deichrand kamen Thomasine in diesem Augenblick besonders schön vor.
»Paà auf dich auf, Daniel«, sagte sie.
»Du auch.« Er sah auf den Deich, dessen hoher Wall nur fünfzig Meter vom Haus entfernt war. Als er sich zu ihr umdrehte, waren seine Augen voller Sorge. »Dein Haus hier liegt sehr tief, Thomasine. Und der Zustand dieses Deiches war schon immer schlecht. Im Frühjahr muÃt du auf den Wasserspiegel achten, wenn es stark regnet. Es ist nicht wie in der Abbey â du bist nicht auf der Insel oben, wo du vor dem Wasser geschützt bist. Du denkst doch daran, nicht wahr?«
Sie versprach es. Dann sah sie ihm nach, wie er durch den Garten und über die Koppel auf den Deich zuging. Als er die Böschung hinaufgestiegen war und sich als dunkle Gestalt vor dem Himmel abzeichnete, drehte er sich um und winkte zum Abschied.
Im September besuchte Thomasine Lally zum drittenmal. Die Fahrt war kompliziert: mit dem Bus von Drakesden nach Ely, dann weiter mit dem Zug und nach mehrmaligem Umsteigen ein langer FuÃweg vom Bahnhof zum Sanatorium, das einsam und abgelegen auf einem Berghang lag.
Die Schwester führte sie zu einem Bett auf der Veranda, die auf das weite Tal hinausblickte. »Kein körperlicher Kontakt, und Sie dürfen nicht zuviel sprechen. Sie können eine halbe Stunde bleiben, Miss Thorne.«
Als die Schwester fort war, berührte Thomasine Lallys Hand, die auf der Decke lag. Bei genauerem Hinsehen glaubte sie, das Gespinst der Venen und Adern durch die Haut schimmern zu sehen.
»Du siehst besser aus, Lally.«
Lallys dunkel glänzende Augen sahen sie spöttisch an. »Du darfst mich nicht zum Lachen bringen. Das wurde mir verboten. Ich weiÃ, wie ich aussehe.«
Thomasine stellte die Blumen, die sie mitgebracht hatte, in eine Vase. »Rosen aus der Abbey. Gefallen sie dir?«
Langsam drehte Lally den Kopf. »Du hast mir schon mal welche gebracht. Du warst schon einmal hier, nicht?«
Thomasine nickte. »Sie wollten mich nicht zu dir lassen, also hab ich bloà die Blumen abgegeben. Ich hab kurz durchs Fenster gesehen, aber du hast geschlafen.«
»Ich hab sie erkannt. Mamas Rosen â¦Â«
»Davon verkaufe ich jede Menge auf dem Markt in Ely.«
Lallys plötzlichem Lachausbruch folgte ein Hustenanfall. Die Schwester, die am Ende der Veranda saÃ, sah miÃbilligend herüber.
»Arme Mama. All die schrecklichen Leute, die jetzt ihre kostbaren Rosen kaufen.« Zum erstenmal richtete sie den Blick auf Thomasine. »Warum kommst du mich besuchen?«
Thomasine setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. »Weil Daniel mich darum gebeten hat. Er ist ins Ausland gegangen, weiÃt du.«
Lally lächelte. »Er hat mir einen so schönen Brief geschrieben.«
Schweigen trat ein. Die leichte Brise bewegte die Blätter an den Bäumen und wehte Lallys Bettzeug auf. Sie hatte die Augen geschlossen, und Thomasine glaubte, sie sei eingeschlafen. Aber plötzlich murmelte sie: »Erinnerst du dich an die Zeit, als er in die Abbey hinaufkam? Wir haben Verstecken gespielt. Ich war gut beim Verstecken.«
»Du solltest nicht sprechen, Lally. Laà mich reden.«
»Ich möchte aber sprechen«, antwortete Lally aufsässig. »Es ist so furchtbar langweilig, den ganzen Tag nur im Bett zu liegen, ganz allein und nichts zum Anschauen.« Ein zorniger Ausdruck stand in ihrem Gesicht: »Das ist ungerecht.«
»Na schön«, sagte Thomasine beschwichtigend. »Aber du muÃt flüstern, sonst kommt die Schwester.«
»Manchmal habt ihr mich nicht mitspielen lassen«, fuhr Lally fort. »Das hat mich wütend gemacht.«
Einen Moment lang vergaà auch Thomasine die Gegenwart, war wieder fünfzehn, lief durchs Labyrinth oder stand an einem heiÃen, schwülen Augusttag
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