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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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weit weg, wirklich. Stell dir einfach vor, hoch oben auf dem Rücken von Fancy zu sitzen. Da hast du doch auch keine Angst, oder?«
    William schüttelte den Kopf und preßte die Zähne auf die Unterlippe.
    Â»Jetzt setz dich einfach hin und rutsch das Dach hinunter auf Mr. Gillory zu. Ich halte das Seil fest, damit du nicht fallen kannst.«
    Hinter dem Kamin stehend, das gespannte Seil in der Hand, beobachtete Thomasine, wie ihr Sohn langsam die Dachschräge hinab auf die Traufe zuglitt. Unten sah sie Daniel im Boot stehen, der darauf wartete, ihn aufzufangen. Ihre Hände waren noch immer taub, und alle Muskeln taten ihr weh, als sie das Gewicht des Kindes hielt. Das Herz blieb ihr einen Augenblick stehen, als William über die Kante der Traufe rutschte und nach unten fiel.
    Daniel fing ihn auf. Überwältigt vor Erschöpfung und Erleichterung sank Thomasine auf die Dachziegel zurück. Als ihr Daniel das Seil wieder zuwarf, erwischte sie es nicht. Ihre Finger versuchten, sich an den nassen Ziegeln festzuhalten, aber sie rutschte hilflos nach unten. Und dann war auch sie im Boot, Daniels Arme hielten sie umschlungen, und er küßte sie immer wieder.
    In der Ruine von Drakesden Abbey suchten sie Zuflucht. Daniel machte Feuer, um sie warm zu halten, er kochte Essen und wickelte sie in Decken.
    Thomasine trank den Tee und schluckte das Aspirin, das Daniel ihr gab, während sie zusah, wie er Teile des gebrochenen Treppengeländers aufs Feuer legte. Zum erstenmal seit Jahren spürte sie, wie ihr die Last der Verantwortung von den Schultern glitt. Sie brauchte nichts anderes zu tun, als sich warm zu halten, sich auszuruhen und wieder zu Kräften zu kommen. Es war schön, eine Weile umsorgt und umhegt zu werden.
    Die Flut hatte die Felder und die Insel vollkommen ausgespült. Als sie aus dem Fenster blickte, sah Thomasine eine neue Landschaft, die kalt und silberig glänzend aus der alten entstanden war. Allein ging sie den Hang der Insel hinab. Das Cottage, in dem sie und William gelebt hatten, war eine schlammverschmierte leere Hülse. Im Gras der Koppel standen flache Pfützen. Der Durchbruch im zerstörten Wall des Deichs war mit Sandsäcken verschlossen, Schlamm und Riedgras, die jahrelang das Wasser zurückgehalten hatten, waren von der Macht der Fluten weggespült worden. Der Himmel war eine riesige, bewölkte Kuppel, die alles beschützte. Als Sonnenlicht durch die Wolken brach, verlieh es dem harten Winterhimmel eine Illusion von Sommer. Einen Augenblick lang war es fast so, als wäre selbst die Zeit aus den Fugen geraten, so daß sie nicht nur glaubte, in einer anderen Jahreszeit, sondern überhaupt in einer anderen Zeit zu sein.
    In einem anderen Jahrzehnt, einem anderen Leben: dem letzten goldenen Sommer, dem Sommer vor dem Krieg. Der flüsternde Wind brachte Stimmen hervor. Die Sonnenstrahlen streichelten über die beiden Köpfe, den goldblonden und den kupferfarbenen, bevor die Wolken sie wieder verschlangen. Dann schwand das Licht, die Geister waren fort, die Sonne verweilte noch einen letzten Moment auf dem Gras und zauberte Juwelen aus der nassen Erde.
    Einer der Edelsteine schien ein wenig heller, ein wenig intensiver zu glänzen als die anderen. Lange wandte sie den Blick davon nicht ab. Ganz hinten, am Ende der Koppel, schien ein blitzendes Auge das Licht der verblassenden Sonne einzufangen.
    Als sie über das morastige Feld ging, begann ihr Herz ein wenig schneller zu schlagen. Sie wollte ihren Augen nicht trauen. Es mußte ein Trugbild sein: Die Sonne ließ die zurückweichende Flut aufblitzen, und sobald sich wieder Wolken über die Sonne legten, wäre das flüchtige Licht verschwunden.
    Doch sie kauerte sich ins Gras und grub mit bloßen Fingern im Schlamm. Und als sie ihren Schatz ausgegraben hatte, blieb sie, unfähig, sich zu rühren, einen Moment am Boden knien und wiegte ihn in ihren Händen. Sein Glanz war getrübt, mit Gras und Erde beschmutzt, doch das gelbe Auge blitzte wie eh und je, und das Maul war noch immer hungrig aufgerissen.
    Sie hörte Schritte hinter sich. Thomasine stand auf.
    Â»Was ist das?«
    Sie merkte, daß Daniel ihn noch nie gesehen hatte. »Es ist der Feuerdrachen.«
    Mit ihrem Taschentuch wischte sie den Schmutz von dem alten Schmuckstück. Einer der Topase fehlte … im Lauf der Zeit hatten sich einige der Klammern gelöst, und die kostbaren Steine waren

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