Die geheimen Memoiren der Jane Austen - Roman
wäre hier, um die Bürde dieser bestürzenden Nachricht mit mir zu teilen. Cassandra, drei Jahre älter und sehr viel schöner als ich, verfügt über eine ruhige und sanfte Natur. Stets kann ich mich darauf verlassen, dass sie mich sogar in den schrecklichsten Lebenslagen wieder in gute Laune versetzt. Aber zu jener Zeit hielt sie sich gerade bei unserem Bruder Edward und seiner Familie in Kent auf.
»Jane!«, hörte ich meine Mutter rufen. »O je, ich glaube, das arme Mädchen ist in Ohnmacht gefallen. Mr. Austen! Zu Hilfe! Wo ist das Riechsalz?«
Ich war in Steventon geboren und hatte alle glücklichen Tage meines Lebens dort verbracht. Ich konnte mir genauso wenig vorstellen, diesen geliebten Ort zu verlassen, wie ich mir vorstellen konnte, Flügel zu entwickeln und zu fliegen. Ich liebte das blumenberankte Spalier am Eingangdes Pfarrhauses, die vollkommene Harmonie der großflächigen Schiebefenster an der Fassade, die weiß getünchten, schlichten Wände und die offenen Balkendecken im Hausinneren. Ich hatte jede Ulme, Kastanie und Tanne liebgewonnen, die über dem Dach des Hauses aufragte, und jede Pflanze und jeden Busch im Garten, wo ich beinahe täglich über den von Erdbeerbeeten gesäumten Rasenweg spazierte.
Im Laufe der Jahre war das Pfarrhaus beträchtlich erweitert und verbessert worden, um den Ansprüchen unserer ständig wachsenden Familie gerecht zu werden, die aus meiner Schwester Cassandra, mir selbst und sechs Söhnen bestand, zudem noch einer langen Reihe kleiner Jungen, die über mehrere Monate bei uns logierten, um von meinem Vater unterrichtet zu werden. Während meiner Kindertage waren die sieben Schlafzimmer im Obergeschoss stets voll belegt, und in den Korridoren hallte ohne Unterlass das Gelächter der Jungen und das Dröhnen ihrer Stiefel.
So plötzlich entwurzelt und für immer von meinem Heim getrennt zu werden – nie wieder durch die Sträßchen der Umgebung spazieren zu können, wo mir jedes zwischen die Bäume geschmiegte, strohgedeckte Häuschen vertraut und jedes Gesicht bekannt war; nie wieder liebe Freunde zu besuchen, nie wieder in einem der eindrucksvollen, aus Backsteinen gemauerten Herrenhäuser ein Abendessen in guter Gesellschaft zu genießen oder an einem Ball teilzunehmen; nie wieder den Hügel hinauf zur Cheesedown Farm jenseits des Dorfes zu gehen, diesem Bauernhof mit seinen Kühen und Schweinen, seinen Weizen- und Gerstenfeldern; nie wieder am Sonntag durch das Wäldchen mit den Ahornbäumen und Ulmenzur Kirche zu spazieren, um die wöchentliche Predigt meines Vaters anzuhören. Wie sollte ich das ertragen?
In Steventon hatte ich jene vollkommene Harmonie von liebevoller Familie und angenehmer Gesellschaft genossen, die nur ein Dörfchen auf dem Land bieten kann. Als meine Brüder später einer nach dem anderen das Haus verließen, hatte ich Zuflucht in meinem eigenen kleinen Arbeitszimmer im Obergeschoss gefunden, das mir die selige Einsamkeit verschaffte, die ich zum Schreiben brauchte.
Wie konnte ich all das zurücklassen, fragte ich mich erschreckt – nur um in ein hohes, schmales angemietetes Haus an einer steingepflasterten Straße im gleißenden Weiß der von mir so verabscheuten Stadt Bath zu ziehen? Beim bloßen Gedanken wurde mir das Herz schwer. Ich hatte einige Besuche in Bath sehr genossen, hegte aber keinesfalls den Wunsch, dort zu wohnen.
Ich verstand die Argumente, die der Entscheidung meiner Eltern zugrunde lagen. Sie freuten sich wohl nach einem langen Leben und Arbeiten auf dem Land auf die Fröhlichkeit und die Geselligkeit des Stadtlebens. In ihrem Alter konnte es zudem nur ein zusätzlicher Vorteil sein, dass sie dort die Möglichkeit haben würden, das Heilwasser zu trinken und die ausgezeichneten Ärzte dieses Ortes für sich in Anspruch zu nehmen. Für mich jedoch war Bath eine Stadt voller Dünste und Nebel, großem Getöse, Schatten und Rauch, von unsteten und unaufrichtigen Menschen bevölkert. Niemals könnten mir seine so gefeierten Konzerte und Bälle meine engen Freunde, mein Heim und die Schönheit einer natürlichen Umgebung ersetzen.
Ich vermutete, dass es noch einen weiteren Grundfür unseren Umzug nach Bath gab, wenngleich dieser unausgesprochen blieb, und dieser Grund war für mich besonders beschämend. Außer seinem Ruf als modischer Badeort genoss Bath auch eine hervorragende Reputation als seriöser Ort, an dem sich Ehemänner für ledige junge Damen finden lassen. Die Eltern meiner Mutter waren nach ihrer
Weitere Kostenlose Bücher