Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
vernehmen – was mich überraschte, da ich doch Mr. Nicholls nur so wenige Silben entlockt hatte und kein einziges Lächeln.
Ich wollte gerade eintreten, als ich Papa sagen hörte: »Ich habe den Mädchen immer gesagt: Bleibt bei euren Handarbeiten. Lernt, wie man Hemden und Kleider näht und wie man Pasteten bäckt, dann seid ihr eines Tages kluge Hausfrauen. Nicht dass sie meinen Rat befolgt hätten.«
Worauf Mr. Nicholls erwiderte: »Ich bin ganz Ihrer Meinung. Frauen sind am besten in den Beschäftigungen, die Gott für sie vorgesehen hat, Mr. Brontë – wenn sie nähen oder sich in der Küche betätigen. Sie sind wahrhaftig vom Glück begünstigt, dass Ihre Töchter zwei alte Jungfern sind und Ihnen den Haushalt führen.«
Zorn und Entrüstung stiegen plötzlich in mir hoch; fast hätte ich das Tablett fallen lassen. Ich war mit den Ansichten meines Vaters über die Rolle der Frau bestens vertraut; meine Schwestern und ich hatten unser ganzes Leben damit verbracht, mit ihm über dieses Thema zu streiten, hatten erfolglos versucht, ihn davon zu überzeugen, dass Frauen über genauso viele geistige Fähigkeiten verfügen wie Männer und dass man ihnen gestatten sollte, ihren Aufgabenbereich weit über die Küche hinaus auszudehnen. Er hatte in der Praxis nachgegeben – indem er uns endlich erlaubte, gemeinsam mit unserem Bruder Geschichte und die Klassiker zu studieren –, aber nicht in der Theorie, weil er fest davon überzeugt war, dass es reine Zeitverschwendung war, wenn wir Latein und Griechisch lernten und Vergil und Homer lasen.
Derlei Engstirnigkeit konnte ich bei Papa entschuldigen, auch wenn ich sie nicht billigte; er war achtundsechzig Jahre alt, ein lieber alter Herr, dessen Augen erblindeten und dessen Ansichten eben die der Männer seiner Generation waren. Aber von einem jungen, studierten Mann wie Mr. Nicholls – den man für eine Stelle in Erwägung zog, die von ihm verlangen würde, dass er in unserer Gemeinde täglich mit Männern und Frauen allen Alters kommunizierte – würde man sich doch eine offenere und liberalere Einstellung erhoffen!
Kochend vor Wut, lehnte ich mich mit dem Rücken an die Tür, schob sie ganz auf und marschierte in das Zimmer. Die beiden Herren saßen nah beim Kamin. Die Wärme des Feuers hatte wahre Wunder gewirkt: Mr. Nicholls hatte sich aufgewärmt, seine Kleider schienen trocken, und sein dunkles Haar, das nun säuberlich über der Stirn gescheitelt war, wirkte glatt und dicht und hatte einen gesunden Schimmer. Auf dem Schoß hatte er Tom, unseren schwarz getigerten Kater; Mr. Nicholls lächelte breit und streichelte gedankenverloren dasTier, das zufrieden schnurrte. Der begeisterte Blick auf der Miene des Fremden verging jedoch mit einem Schlag, als ich mich näherte; er setzte sich aufrecht hin, was den Kater dazu veranlasste, ihm vom Schoß zu springen. Dieser Mann konnte mich offensichtlich nicht sonderlich gut leiden. Es machte mir kaum etwas aus, denn nach seiner letzten Bemerkung hatte ich ohnehin jeglichen Respekt verloren, den ich je für ihn gehegt haben mochte.
»Papa, ich bringe den Tee.« Ich stellte das Tablett auf dem kleinen Tisch neben Mr. Nicholls ab. »Ich will euch nicht stören, überlasse also alles Weitere den fähigen Händen von Mr. Nicholls.«
»Oh, Charlotte! Bitte bleibe da und schenke den Tee ein. Wie trinken Sie Ihren Tee?«
»Wie immer man ihn mir reicht«, antwortete Mr. Nicholls. Papa lachte. Zu mir sagte Mr. Nicholls unvermittelt: »Zwei Stückchen Zucker, bitte, und eine Scheibe Brot mit Butter.«
Meine zarte weibliche Seele schrak vor seinem Befehlston zurück; am liebsten hätte ich das Brot abgeschnitten und ihm in sein arrogantes Gesicht geworfen. Ich hielt mich jedoch zurück und tat, was man von mir verlangt hatte. Er hatte zumindest den Anstand, sich zu bedanken. Ich ließ das Teetablett bei ihnen und floh in die Küche zurück, wo Emily, Tabby und ich den größten Teil der nächsten Stunde damit verbrachten, uns über die Narrheiten engstirniger Männer zu empören.
»Eine alte Jungfer genannt zu werden – mit neunundzwanzig! –, und noch dazu von einem Mann, der sich für zu fein hält, einen Fuß in unsere Küche zu setzen!«, rief ich voller Verachtung. »Und dann erwartet er im gleichen Augenblick, dass ich ihn bediene, ihm die Butter aufs Brot streiche – das ist einfach unerträglich!«
»Mich hat er auch eine alte Jungfer genannt«, fügte Emilymit einem Achselzucken hinzu, »und er hat mich noch
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