Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
des Pfarrhauses gesehen, als er deinen Vater besuchen kam«, fuhr Ellen fort. »Ich glaube, dass er trotz der geringen Aussicht auf Beförderung in seiner Laufbahn in Haworth bleibt, weil er dich mag, Charlotte.«
»Das ist doch absurd!«, sagte ich.
»Nein, das ist es nicht«, erwiderte Ellen.
»Das sage ich Charlotte schon die ganze Zeit«, mischte sich Anne ein und plantschte fröhlich mit den Füßen im Wasser. »Aber sie will mir ja nicht zuhören.«
»Hast du gesehen, wie er dich angeschaut hat, als er ins Haus kam?«, fragte Ellen.
»Nein.«
»Er hatte den gleichen Gesichtsausdruck, den ich früher auf Mr. Vincents Zügen bemerkt habe, als er mir den Hof machte: verlegene Schüchternheit und verborgene Bewunderung, alles noch mit Zurückhaltung und Furcht vermischt. Er hoffte auf ein Wort oder einen Blick von dir; und du hast nicht einmal in seine Richtung geschaut.«
Ich fand, dass Ellen das wohl geträumt haben musste, und teilte ihr das auch mit.
»Ich habe aber beobachtet, wie er absichtlich länger im Flur geblieben ist und dich heimlich beäugt hat«, mischte sich Emily ein, die auf dem Bauch auf einem großen Felsen lag, mit der Hand durch das klare, flache Wasser strich und die Kaulquappen in alle Richtungen scheuchte.
»Mr. Nicholls ist immer sehr freundlich zu mir«, meinte Ellen. »Er ist gut zu deinem Vater gewesen und war eine große Hilfe in der Gemeinde. Warum kannst du ihn so wenig leiden?«
Ich warf einen kurzen Blick auf meine Schwestern, die ihn erwiderten, aber schwiegen. Ich hatte Ellen die Geschichte von Bridget Malone nie erzählt, weil ich es für verkehrt hielt, bösartige Gerüchte weiterzutragen, die sich ungünstig auf Mr. Nicholls’ Laufbahn auswirken könnten, noch hatte ich ihr von der gemeinen Anmerkung berichtet, die Mr. Nicholls vor zwei Jahren hinter meinem Rücken gemacht hatte, als er gerade in Haworth angekommen war.
»Ich fürchte, Mr. Nicholls ist nicht das Abbild der Vollkommenheit, für das du ihn hältst, Nell«, sagte ich, lehnte mich an den Felsen und schloss die Augen, um mich an der Wärme der Sonne zu erfreuen. »Es wäre indiskret, dir näher zu erläutern, warum ich das denke, aber nicht alle in Haworth mögen ihn so sehr wie du.«
Eine Woche später bekam Ellen die Gelegenheit, ein Beispiel für Mr. Nicholls’ weniger zuvorkommendes Verhalten selbst mitzuerleben. Seit seiner Ankunft in Haworth hatte er sich dagegen ausgesprochen, dass die Waschfrauen jede Woche ihre nasse Wäsche über die liegenden Grabsteine auf dem Kirchhof von Haworth ausbreiteten. Und auch jetzt, zwei Jahre später, beklagte er sich noch darüber.
»Einen Friedhof sollte man mit Ehrfurcht behandeln. Er sollte ein Ort der Einsamkeit und des Respekts sein, an dem man der Verstorbenen gedenkt«, hatte ich Mr. Nicholls einige Monate zuvor zu Papa sagen hören, als ich ihnen den Tee servierte. »Dieses Spektakel ist ein Hohn, als hielte man wöchentlich ein Picknick auf geweihtem Boden ab.«
»Ich finde es eigentlich reizend«, hatte ich damals eingeworfen. »Alle Frauen treffen sich mit ihren Wäschekörben auf dem Kirchhof und plaudern fröhlich in der leichten Brise. So wird der Friedhof einem praktischen Nutzen zugeführt, und er erscheint weniger düster. Er ist dann ein Ort, an dem sich alle einmal in der Woche treffen können.«
»So kommen sie einmal aus ihren düsteren Höfen heraus«, stimmte Papa mir zu. »Ich habe mir sagen lassen, dass sie sich immer darauf freuen.«
»Nun, ich habe jedenfalls vor, der Sache ein Ende zu setzen«, hatte Mr. Nicholls geantwortet.
Und das hatte er auch getan. Er führte eine lange Schlacht mit den Kirchenältesten und erreichte endlich sein Ziel. Eines Sonntags im Juli machte er bei den Gottesdiensten folgende verblüffende Abkündigung:
»Ab heute ist es nicht mehr erlaubt, Wäsche auf dem Kirchhof von Haworth auszulegen oder aufzuhängen. Meine Damen, bitte suchen Sie sich einen passenderen und angemesseneren Platz, um Ihre nassen Kleidungsstücke zu trocknen.«
Eine Welle des Protestes erhob sich in der Gemeinde, unter Männern und Frauen gleichermaßen. Mr. Nicholls verließ unter Buhrufen und Beschimpfungen die Kanzel. Nach dem Gottesdienst standen die Leute in Gruppen auf dem Kirchhof und auf der Gasse zusammen und gaben ihrem Unmut lautstark Ausdruck. Meine Schwestern, Ellen und ich wollten gerade zum Haus zurückgehen, als Sylvia Malone mit grimmiger Miene auf uns zugeschritten kam.
»Oh! Dieser Mr. Nicholls!«, rief
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