Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
Sylvia. »Spätestens ab heute könnte ich seinen Anblick nicht mehr ertragen, wenn ich nicht schon längst gegen ihn eingenommen wäre.«
»Ich verstehe, warum Mr. Nicholls etwas gegen die Wäsche auf dem Friedhof hat«, meinte Anne. »Mir ist diese Angewohnheit schon immer ziemlich pietätlos vorgekommen.«
»Bei uns in Birstall würde man auch niemals auf dem Friedhof Wäsche zum Trocknen aufhängen«, stimmte ihr Ellen zu.
»Habt ihr Bäume in Birstall?«, fragte Sylvia.
»Ja«, antwortete Ellen.
»Nun, hier an diesem Ort gibt es ja kaum einen Baum«, erwiderte Sylvia hitzig. »Also können wir keine Wäscheleinen spannen, oder? Wo sollen wir jetzt unsere nassen Sachen trocknen, frage ich euch. Oh! Wie ich mir wünschte, dass Mr. Nicholls nach Irland zurückginge, wo er hingehört, und niemals zurückkehrt!«
Viele Gemeindeglieder pflichteten dieser Ansicht bei und drückten den Wunsch aus, Mr. Nicholls möge sich, wenn er zu seinem alljährlichen einmonatigen Urlaub nach Irland aufbräche, nicht die Mühe machen, die Überfahrt zurück anzutreten.
»Ein solches Gefühl sollte es zwischen dem Hirten und seiner Herde nicht geben«, sagte ich mit einem missmutigen Seufzer zu Anne, nachdem Mr. Nicholls weggegangen war.
»Das wird sich mit der Zeit legen«, antwortete Anne mit ruhiger Sicherheit.
Annes Worte sollten sich bewahrheiten. Schon bald gewöhnten sich die Frauen der Gemeinde daran, ihre Wäsche über ihre Steinmauern oder über die Mauer zur Kirchgasse zu hängen, die sich als ebenso angenehmer Treffpunkt erwies.
In jenem Sommer erreichte uns endlich eine gute Nachricht aus der Verlagswelt. Thomas Newby, der Leiter eines kleinen Londoner Verlags, drückte seinen Wunsch aus, Annes
Agnes Gre y
und Emilys
Sturmhöhe
zusammen als dreibändiges Werk zu veröffentlichen – da
Sturmhöhe,
wie er sagte, ein so umfangreiches Werk sei, dass es allein zwei Bände beanspruche. Zu meiner Enttäuschung zeigte er kein Interesse an meinem Roman
Der Profes sor
, von dem er meinte, ihm »fehle es an überraschenden Ereignissen und spannender Aufregung«.
Meine Schwestern waren außer sich vor Freude. Ich war um ihretwillen entzückt, aber gleichzeitig auch vorsichtig. Denn dieses Angebot galt nur unter der Voraussetzung, dass die Autoren selbst die Kosten für die Veröffentlichung trugen, indem sie die Summe von fünfzig Pfund vorstreckten. Wir hatten bereits mit einer von uns finanzierten Publikation eine äußerst enttäuschende Erfahrung gemacht, und ich sorgte mich nun, dass auch dieses Vorhaben kein besseres Schicksal ereilen würde, insbesondere da nur 350 Exemplare gedruckt werden sollten, allerdings zu einem Preis, der meine Schwestern in die Armut treiben würde. Nach so viele Ablehnungen waren Emily und Anne jedoch derart erleichtert, überhaupt ein Angebot zu erhalten, dass sie sich sofort einverstanden erklärten.
Dass man meinen Roman
Der Prof
essor als einziges Werk abgelehnt hatte, war ein harter Schlag. Ich wollte gerade dasvon mir so sehr geliebte, aber abgewiesene Manuskript in die unterste Schublade stopfen, als ich mich daran erinnerte, dass es noch ein letztes Verlagshaus auf meiner Liste gab, an das ich noch nicht geschrieben hatte: Smith, Elder & Co. in Cornhill, London. Obwohl ich wusste, dass nur wenig Hoffnung bestand, dass man meinen Roman dort annehmen würde, weil er zu kurz für die Veröffentlichung in einem Band war, beschloss ich, ihn trotzdem einzusenden. Ich erröte, wenn ich das nun eingestehe, aber in meiner Naivität (weil Papier so teuer ist und weil ich sonst nichts zur Hand hatte) wickelte ich das Manuskript in dasselbe Papier, in das wir die anderen eingepackt hatten. Wir hatten einfach die Adressen der anderen Verleger durchgestrichen und die nächste hinzugefügt.
Dann machte ich mich wieder daran,
Jane Eyre
weiter ins Reine zu schreiben. Nach einiger Zeit erhielt ich eine Antwort von Smith, Elder & Co. Ich öffnete den Umschlag in trübseliger Erwartung zweier harscher Zeilen, die mir jede Hoffnung nehmen, mir für meine Einsendung danken und mir deutlich machen würden, dass der Verleger nicht geneigt war, mein Manuskript zu veröffentlichen. Stattdessen zog ich einen zweiseitigen Brief aus dem Couvert.
Der Brief stammte von einem Mr. William Smith Williams, dem Lektor bei Smith, Elder & Co. Mr. Williams lehnte es tatsächlich »aus geschäftlichen Gründen« ab, den Roman
Der Professor
zu veröffentlichen, obwohl er »große literarische Ausdruckskraft«
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