Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
mich erst einmal ein, zwei Kritiken vorlesen und dir etwas mehr darüber erzählen lässt.« Ich setzte mich zu ihm und las ihm einige der Rezensionen laut vor. Er legte große Überraschung und reges Interesse an den Tag.
»Aber wer ist dieser Currer Bell? Warum hast du das Buch nicht unter deinem richtigen Namen veröffentlicht?«
»Papa, du weißt doch, dass es gang und gäbe ist, dass Autoren einen Künstlernamen annehmen – und ich denke, dass Autorinnen immer noch eher mit Vorurteilen betrachtet werden als ihre männlichen Kollegen.«
Ich reichte ihm ein Exemplar von
Jane Eyre
und ließ ihn allein, damit er darin lesen könnte. Später am Tag, als Papa ins Esszimmer kam, wo meine Schwestern und ich gerade Tee tranken, sagte er: »Mädchen, wisst ihr, dass Charlotte ein Buch geschrieben hat? Und es ist viel besser, als ich es erwartet hätte.«
Meine Schwestern und ich tauschten stumme Blicke und hatten alle Mühe, ernste Gesichter zu bewahren.
»Tatsächlich?«, sagte Emily. »Ein Buch?«
»Ja«, erwiderte Papa begeistert. »Seht nur: Es ist sogar schon veröffentlicht worden, drei Bände in einer schönen Ausstattung, auf bestem Papier und in einer sehr klaren Schrift gedruckt.«
»Ich freue mich, dass du die äußeren Attribute des Buchs so zu schätzen weißt, Papa«, antwortete ich.
»Nicht nur das«, fuhr Papa fort. »Die Geschichte hat sofort meine Aufmerksamkeit gefesselt. Ich habe den ganzen Nachmittag über gelesen. Ich verstehe, warum alle Kritiker so begeistert sind.«
»Du musst mir dieses wunderbare Buch auch einmal zeigen, Charlotte«, sagte Emily mit einem kleinen Seitenblick zu mir.
»Vielleicht mache ich das«, antwortete ich und musste über ihren verschmitzten Gesichtsausdruck und über Papas Lob lächeln. »Aber Papa«, fügte ich noch hinzu, »ich habe mir bisher größte Mühe gegeben, meine Arbeit vor anderen verborgenzu halten, und ich würde das gern weiterhin tun. Bitte versprich mir, dass du meine Autorenschaft geheim hältst.«
»Warum um alles in der Welt sollte ich das machen? Dies ist doch eine wunderbare Leistung – du hast ein Buch veröffentlicht und ganz England singt dein Lob! Bist du nicht stolz darauf?«
»Das bin ich, Papa – aber ich möchte nicht an die Öffentlichkeit treten. Besonders in Yorkshire würde ich gern meine Autorenschaft geheim halten. Ich würde vergehen, wenn eines Tages wildfremde Menschen hier unangekündigt vor der Tür stünden und in meinem Leben herumschnüffelten. Schlimmer noch: wenn ich mir je beim Schreiben bewusst wäre, dass ganz gewöhnliche Bekannte mein Buch lesen, würde mir das gleichsam Hände und Füße fesseln.«
»Nun, dann soll es so sein«, gestand mir Papa mit einem tiefen Seufzer zu. »Aber ich finde es sehr schade. Wie gern würde ich diese Neuigkeit meinen Kollegen mitteilen. Mr. Nicholls, da bin ich sicher, wäre begeistert, wenn er davon erführe!«
»Mr. Nicholls?«, sagte ich, und die Hitze stieg mir in die Wangen. »Mr. Nicholls interessiert sich nicht für Literatur, Papa. Ich versichere dir, er würde sich keinen Deut darum scheren. Bitte
versprich
mir, dass du ihm nichts davon erzählst!«
Äußerst widerwillig gab mir Papa dieses Versprechen.
Leider war der Verleger meiner Schwestern, Mr. Thomas Newby, weder ein so guter Geschäftsmann noch ein so feiner Gentleman wie die Herren Smith und Elder. Emily und Anne hatten mit erschöpfenden Verzögerungen, mit Zaudern und nicht eingehaltenen Versprechungen zu kämpfen. Und doch weigerten sie sich, mit ihren Büchern zu Smith & Elder zu wechseln, weil sie darauf bestanden, sie wollten meinen Erfolg nicht beeinträchtigen.
Zum Kummer meiner Schwestern trug noch weiter bei, dass ihre Romane, als sie endlich veröffentlicht wurden – gemeinsam unter ihren Künstlernamen als dreibändige Ausgabe, wobei
Sturmhöhe
die ersten beiden und
Agnes Grey
den dritten Band bildeten – sehr billig in graue Pappeinbände gebunden waren. Statt in Goldlettern erschienen Buchtitel und Namen der Autoren einfach mit schwarzer Tinte gedruckt auf einem winzigen, billigen weißen Zettel, der auf den Leinenrücken geklebt war. Auf dem Titelblatt von Band eins stand fälschlicherweise auch noch »Sturmhöhe, ein Roman von Ellis Bell in drei Bänden«, als existierte Annes Buch überhaupt nicht. Und in allen drei Büchern wimmelte es nur so von Druckfehlern. Die Korrekturen beinahe aller Fehler, die Anne und Emily mit so viel Mühe auf den Druckfahnen vorgenommen hatten, waren
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