Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
ich freue mich, dass Sie jetzt so denken.« Es schwang ein leisesNecken in seiner Stimme mit. So hatte er noch nie mit mir gesprochen – mit leichter Belustigung und ohne den üblichen tiefen Ernst –, und dies traf mich völlig unvorbereitet. Ich merkte, dass ich zurücklächelte, und antwortete in gleichfalls neckendem Ton: »Gehe ich recht in der Annahme, Sir, dass Sie deswegen keinen Groll mehr gegen mich hegen?«
»Völlig recht.«
»Das freut mich.«
Wir streiften nun auf dem schmalen Pfad durch das Tal. Wir stiegen durch die Schlucht zum Bach hinunter, der, vom Frühlingsregen der vergangenen Wochen angeschwollen, nun voll und klar dahinrauschte und die goldenen Sonnenstrahlen und die saphirblauen Farbtöne des Himmels einfing. Wir verließen den Weg und gingen über moosweiches und smaragdgrünes Gras, das mit winzigen weißen und gelben Blütensternen übersät war. Ringsum schlossen uns die aufragenden Berghänge ein.
»Sollen wir hier Rast machen?«, fragte Mr. Nicholls, als wir die ersten Ausläufer der vielen Felsen am Eingang zu einem Bergpass erreicht hatten und man dahinter das Rauschen des nahegelegenen Wasserfalls hören konnte.
Ich nickte und ließ mich auf einem der großen Steine nieder. Mr. Nicholls setzte sich auf einen einige Schritte entfernten Felsen und nahm den Hut ab. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie gut er aussah, wie er da vor mir saß, während die Brise durch sein dichtes, dunkles Haar strich und sein Gesicht im Nachmittagslicht freundlich leuchtete.
»Wäre es nicht großartig, Miss Brontë, wenn wir reinen Tisch machen und noch einmal von vorn anfangen könnten, als hätten wir uns gerade eben erst kennengelernt?«
»Das wäre es«, stimmte ich ihm zu. Ich überlegte – obwohl ich das nicht laut sagte –, dass ich mir von einer bestimmtenErinnerung besonders wünschte, sie würde für immer und alle Zeiten aus Mr. Nicholls’ Gedächtnis gestrichen. Ich dachte an die falschen, anzüglichen Worte, die er mit angehört hatte, als mein Bruder mich wegen meiner angeblichen Beziehung zu einer bestimmten Person in Belgien angegriffen hatte. Doch das wagte ich nicht anzusprechen. Statt dessen fügte ich hinzu: »Im Hinblick darauf wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die scharfen Bemerkungen vergessen könnten, die ich gestern gemacht habe.«
Mr. Nicholls schaute mich an. »Bedeutet das – in Ihren Augen –, dass ich es vielleicht doch wert bin, mich Christ zu nennen?«
»Das dürfen Sie in der Tat, Sir.«
»Und Pfarrer?«
»Auch das.«
»Sie halten mich also nicht für einen Automaten?«
Meine Lippen zuckten. »Nein. Sie haben zwar einige sehr unbeugsame Ansichten, Sir, denen ich niemals zustimmen werde – aber das bedeutet lediglich, dass Sie Prinzipien besitzen und an diesen festhalten. Das macht Sie zu einem denkenden Menschenwesen, nicht zu einem Automaten.«
»Ein denkendes Menschenwesen – damit kann ich leben. Aber nicht, hoffe ich, auch ein elender Schuft?«
»Nein, zumindest nicht nach allem, was mir im Augenblick bekannt ist.« Ich lachte.
Mr. Nicholls fiel in mein Lachen ein. Es war ein tiefes, lautes, freudiges Lachen, das aus dem innersten Wesen zu kommen schien. Dann überzog plötzlich eine leichte Röte sein Gesicht. Sein Lächeln verging, und er wandte den Blick ab und richtete ihn auf einen fernen Punkt irgendwo jenseits des Baches. »Wenn wir schon dabei sind, reinen Tisch zu machen, Miss Brontë, so gibt es eine Bemerkung, die
ich
sehr gern zurücknehmenwürde – eine Bemerkung, die ich gemacht habe, als wir uns noch nicht lange kannten, und die mich seither sehr gequält und die Sie, glaube ich, sehr verletzt hat.«
»Oh?«, erwiderte ich mit gespielter Gleichgültigkeit, da ich zu wissen glaubte, worauf er sich beziehen würde. »Welche war das, Sir?«
»Vielleicht erinnern Sie sich gar nicht mehr daran. Ich hoffe es jedenfalls von ganzem Herzen. Ich jedoch konnte meine Worte nicht vergessen. Es war vor drei Jahren, an dem Tag, als Branwell und Anne aus Thorp Green nach Hause zurückkehrten und als Mr. Grant und ich zum Tee bei Ihnen zu Gast waren. Wir waren äußerst überheblich geworden und hatten uns in schändlichster Manier höchst abfällig über die Frauen geäußert, als Sie uns mit Nachdruck – und völlig zu recht – scharf tadelten. Ich war damals zu jung und töricht, um überhaupt zu begreifen, wie wenig zartfühlend wir uns verhalten hatten. Und als Sie daraufhin den Raum verließen – und ich glaubte, Sie seien außer
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