Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
erfüllt.
Trotz dieses herrlichen Tags fühlte ich mich anfänglich recht beklommen, wie ich so neben Mr. Nicholls einherschritt. Nach den vielen Jahren der Distanz zwischen uns und nach meiner lang gehegten Abneigung gegen ihn fiel es mir schwer, ein Gespräch mit ihm anzufangen. Ich fürchtete, ich würde das Falsche sagen und wir würden wieder in gefährliches Fahrwasser geraten. Er schien genauso zu zögern, und so gingen wir eine Weile in unbehaglichem Schweigen einher. Als wir die Weiden hinter uns gelassen hatten und die wilde Heidelandschaft in ihrem violetten Schimmer vor uns lag, fasste ich jedoch Mut und sagte: »Sir, ich möchte Ihnen noch einmal erklären, wie entsetzt ich war, als ich erfuhr, welche Unbill Sie in der Vergangenheit wegen Miss Malone zu erdulden hatten. Stimmt es, dass Sie ihretwegen das Trinity College verlassen mussten?«
»Ja. Ich kehrte damals nach Hause zurück und betätigte mich während der nächsten beiden Jahre als Lehrer. Gleichzeitig kämpfte ich darum, meinen guten Namen reinzuwaschen.«
»Sie waren Lehrer?«, fragte ich überrascht. »Ich habe auch als Lehrerin gearbeitet.«
»Das weiß ich. Ihr Vater hat es mir erzählt. Nach allem, was ich von ihm vernommen habe, scheint mir diese Beschäftigung besser gefallen zu haben als Ihnen, Miss Brontë. Aber es war nie meine wirkliche Berufung. Als Miss Malone endlich ihren Fehler einsah und ihre Anschuldigungen widerrief, durfte ich wieder an die Universität zurück.«
»Gott sei Dank. Ich hoffe, man hat Ihnen dort geglaubt, dass Sie völlig unschuldig waren, Sir, und hat eine Entschuldigung ausgesprochen?«
»Ja. Man hat mir auch zugesichert, den Vorfall aus meinen Akten zu löschen und ihn nie wieder zu erwähnen. Das ist jedoch der Grund, warum ich erst nach sieben Jahren meinen Abschluss in Theologie am Trinity College machte und nicht, wie gewöhnlich, nach fünf Jahren.«
»Oh, ich verstehe. Ich wusste, dass Sie, als Sie nach Haworth kamen, siebenundzwanzig Jahre alt und gerade erst ordiniert waren, aber ich ging einfach davon aus, dass Sie später als die meisten zur Universität gegangen waren.«
»Nein.«
»Und was hat Sie dann nach Ihrem Abschluss nach England geführt, Mr. Nicholls?«
»In der Church of Ireland sind heutzutage die Posten für Hilfspfarrer nicht sonderlich dicht gesät. Ich musste die Irische See überqueren, um hier mein Glück zu suchen.«
»Es muss Ihnen schwergefallen sein, Ihr Heimatland und Ihre Familie zu verlassen, Sir.«
»Ja, es war nicht leicht. Aber es hat sich doch zum Guten gewendet, denke ich.« Er schaute mich mit einem kleinen Lächeln von der Seite an, während wir weitergingen. »Aber jetzt genug davon. Ich würde viel lieber über Sie sprechen, Miss Brontë. Ihr Vater sagte mir, Sie hätten selbst auch die Schule besucht.«
»Ja, sogar drei Schulen.«
»Er hat mir von der ersten Schule erzählt – dass Sie dort große Entbehrungen zu erleiden hatten und was Ihren Schwestern Maria und Elizabeth dort zugestoßen ist. Seit ich davon gehört habe, wollte ich Ihnen immer sagen, wie leid mir Ihr Verlust tut.«
»Danke, Mr. Nicholls.«
»Ich habe selbst auch eine Schwester im zarten Alter verloren.«
»Wirklich? Das tut mir leid. Wie hieß sie? Wie alt war sie?«
»Sie hieß Susan. Sie war vier Jahre alt, als sie krank wurde und starb. Sie war ein so hübsches Mädchen mit strahlenden Augen, voller Leben und sprühend vor Lustigkeit. Ich war damals erst sieben, und ich war sehr zornig. Ich konnte nicht verstehen, dass der Herrgott mir meine vollkommene, wunderhübsche Schwester wegnahm.«
»Ich war gerade erst neun geworden, als meine Schwestern starben«, sagte ich und schaute voller Mitleid und überrascht über diese Gemeinsamkeit zwischen uns zu ihm auf, da wir doch die gleiche traurige Geschichte hinter uns hatten. »Es ist wohl in jedem Alter schwer, ein geliebtes Geschwisterkind zu verlieren, aber ich glaube, die ganz Kleinen trifft es besonders hart. In gewisser Weise bin ich nie darüber hinweggekommen.«
»Mir geht es ähnlich. Es war Susans Tod, der mich schließlich dazu brachte, Geistlicher zu werden. Ich wollte unbedingt Gott und unser Los auf dieser Erde besser verstehen. Und mich verlangte danach, denen, die so leiden mussten wie ich damals, Trost und Zuspruch zu spenden.«
»Wir haben in Haworth Glück, dass Sie dieser Berufung gefolgt sind und dass Ihr Weg Sie zu uns geführt hat, Sir.«
»Das hätten Sie, fürchte ich, gestern nicht gesagt. Aber
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