Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
»Charlotte, wenn ich es euch nur vergelten könnte, dann würde ich das tun. Wenn man Liebe und Dankbarkeit aus den Schlägen eines sterbenden Herzen heraushören könnte, dann wüsstest du, dass meines nur für dich, unseren Vater und meine Schwestern schlägt. Ihr wart mein einziges Glück auf Erden.«
Als wir uns alle an jenem Sonntagmorgen des 24. Septembers 1848 um Branwells Bett zusammenfanden, hörte ich ihn voller schmerzlicher, trauriger Freude leise beten. Und auf das letzte Gebet, das mein Vater sprach, antwortete er leise: »Amen.« Wie ungewöhnlich es war, dieses Wort aus dem Munde meines Bruders zu hören! Und doch: welch ein Trost war es für uns alle, es zu vernehmen! Ich kann nur hoffen, dass es meinem sterbenden Bruder ebensolchen Trost spendete. Denn zwanzig Minuten später war er von uns gegangen.Ehe das letzte Stündlein geschlagen hat, können wir nicht wissen, ob wir in der Lage sind, einem nahen Verwandten Vergebung, Mitleid und Bedauern entgegenzubringen. Viele hätten vielleicht nach allem, was wir hatten erdulden müssen, den Tod unseres Bruders als Erlösung und nicht als Strafe gesehen. Manchmal erschien es meinen Schwestern und mir so. Als ich jedoch meinen Bruder seinen letzten Atemzug tun sah – und das erste Mal mit eigenen Augen den Tod eines Menschen erlebte –, als ich sah, wie sich seine Züge nach dem letzten Todeskampf friedlich entspannten, empfand ich einen Verlust, der sich durch kein noch so langes Weinen würde lindern lassen.
Ich weinte, weil er seine Begabung vergeudet hatte, weil dieser vielversprechende junge Mann sich selbst zerstört hatte, weil vorzeitig all das ausgelöscht worden war, was ein hell leuchtendes Licht hätte werden können. Ich weinte um den Bruder, den ich einmal von ganzem Herzen geliebt hatte und den ich nun nie wiedersehen würde. All seine Fehler und Laster schienen mir in diesem Augenblick ein Nichts zu sein. Jede üble Tat, die er begangen hatte, schwand dahin. Nur sein Leiden war mir in Erinnerung. Ich betete, dass er im Himmel Frieden und Vergebung finden würde.
Papa war tagelang zutiefst verzweifelt. Immer wieder rief er: »Mein Sohn! Mein Sohn!« Seine Körperkraft verließ ihn jedoch nicht, und nach und nach erlangte er sein geistiges Gleichgewicht wieder.
Am Tag von Branwells Beerdigung regnete es. Der Herbst begann mit Macht. Wir erkälteten uns alle, und in den folgenden Wochen saßen wir, warm eingehüllt, am Kamin, zusammengekauert vor dem eiskalten Ostwind, der wild und scharf über die Heide und die Berge herbeigestürmt kam.
Emilys Erkältung entwickelte sich zu einem hartnäckigen Husten, der täglich schlimmer wurde, schon bald Schmerzenin der Brust und in den Seiten nach sich zog und sie kurzatmig machte. Emily ertrug die Krankheit mit stoischer Ruhe und erwartete weder Mitleid noch duldete sie es. Aber sie schwand vor unseren Augen dahin, wurde immer dünner und bleicher. Von unaussprechlicher Furcht niedergedrückt, beschwor ich Emily wieder und wieder, sie möge mir erlauben, einen Arzt hinzuzuziehen. Doch sie wollte nichts davon wissen.
»Ich will keinen Doktor, der mich vergiftet«, beharrte sie starrköpfig, »der mich mit seiner Quacksalberei zu betäuben sucht und mir Arzneien verschreibt, die mich nur noch mehr krank machen. Ich komme schon von allein wieder auf die Beine.«
Aber Emily kam nicht wieder auf die Beine.
Sie verging.
Jede Einzelheit von Emilys Krankheit ist mir tief ins Gedächtnis gegraben. Das heftige, angespannte Husten, das Tag und Nacht durch unser Haus schallte, die raschen, keuchenden Atemzüge nach der geringsten Anstrengung, das immer wieder aufflackernde Fieber, die zitternde Hand, der schwindende Appetit, die ausgemergelte Gestalt und das hagere Gesicht – alle Anzeichen der Schwindsucht. Während ich Emily beobachtete, wie sie sich hartnäckig Tag für Tag damit abplagte, ihre Pflichten im Haushalt zu erfüllen, obwohl sie offensichtlich kaum noch dazu in der Lage war, wurde ich beinahe wahnsinnig vor Sorge. Die Verbindung zu einer Schwester ist keine gewöhnliche Beziehung: Ich liebte meine Schwester wie mein eigenes Leben. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, sie zu verlieren. Drei Monate lang fragte ich überall um Rat. Ich schlug Abhilfe vor. Ich versuchte, Emily ihre Bürde abzunehmen und sie dazu zu ermutigen, sich Ruhe zu gönnen. Auf all diese Bemühungen reagierte meine Schwester mit Ärger und Ablehnung.
Emily hatte eine schlichte, beinahe primitive Ader. Wie die
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