Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
auch.« Im Verlauf der vergangenen zwei Stunden hatte ich mehr über Mr. Nicholls erfahren als in den letzten drei Jahren unserer Bekanntschaft. Trotz unserer Unterschiede wusste ich nun, dass wir einiges gemeinsam hatten. Außerdem hatte er sich auf äußerst annehmbare Weise entschuldigt. Als ich sein Lächeln erwiderte und mich verabschiedete, wurde mir klar, dass ich nichts dagegen haben würde, in Zukunft weitere Spaziergänge mit ihm zu machen.
Dieser Gedanke jedoch – und jegliche Möglichkeit, ihn in die Tat umzusetzen – wurde mit schrecklicher Endgültigkeit durch die Ereignisse unterbunden, die in den folgenden Wochen und Monaten über meine Familie hereinbrachen.
Branwells Gesundheitszustand hatte sich den ganzen Sommer über rapide verschlechtert. In den vergangenen achtzehn Monaten war es mit ihm stetig bergab gegangen. Doch er war so oft betrunken gewesen oder hatte an den Nachwehen dieses Rausches gelitten, dass wir nicht wahrgenommen hatten, wie ungeheuer schwach er geworden war. Branwells Ohnmachtsanfälle und das Delirium tremens, unter dem er zunehmend litt, hatten zusammen mit der Grippe, die den gesamten Haushalt niedergestreckt hatte, die Symptome einer weitaus schwerwiegenderen und aggressiven Krankheit verdeckt, die sich in seinem so arg misshandelten und geschwächten Körpers festgesetzt hatte: die Symptome der Schwindsucht.
In jenem September war mein Bruder drei Wochen lang ans Bett gefesselt. Er kam nur zweimal mit äußerster Mühe auf die Beine: einmal, um ins Dorf zu taumeln, und ein anderes Mal, als ich ihm eine Nachricht von Francis Grundy überbrachte, seinem Freund aus den Tagen seiner Anstellung bei der Eisenbahn in Luddenden Foot. Mr. Grundy hielt sich unerwartet in der Stadt auf und hoffte, Branwell würde sichmit ihm zum Abendessen in einem Nebenzimmer des »Black Bull« treffen, das er dort gebucht hatte.
»Das kann nicht Grundy sein«, rief Branwell verängstigt, während er sich mit äußerster Mühe zitternd von seiner Bettstatt erhob und sich ein Hemd über den ausgezehrten Leib zog. Aus seinen tief eingesunkenen Augen funkelte der Wahnsinn, und sein wirres rotes Haar, das er uns monatelang nicht hatte schneiden lassen, hing ihm in wilden Strähnen um das ausgemergelte Gesicht. »Grundy hat mich völlig abgeschrieben. Er wollte mich nie besuchen kommen. Das muss ein Ruf des Teufels sein! Der Satan versucht, mich in seine Fänge zu bekommen!«
»Branwell, beruhige dich doch«, sagte ich in besänftigendem Ton. »Es ist keine Botschaft des Satans. Es ist dein Freund Mr. Grundy, der nur mit dir zu Abend essen möchte – aber dir geht es nicht gut. Ich werde ihm das sagen und ihn bitten, hierher zu Besuch zu kommen. Und jetzt geh wieder zu Bett.« Mit diesen Worten nahm ich ihn leicht beim Arm, doch er drängte mich unsanft zur Seite.
»Aus dem Weg! Ich muss hingehen und ihm selbst gegenübertreten!«, rief er und brachte irgendwie die Kraft auf, das auch zu tun.
Erst später fand ich heraus, dass Branwell ein Tranchiermesser aus der Küche entwendet und im Ärmel versteckt hatte, um seinen »Besucher aus dem Jenseits« beim ersten Anblick damit zu erstechen. Als Branwell das Nebenzimmer des Gasthauses betrat, wo Mr. Grundy ihn erwartete, brachten ihn zum Glück die Stimme und das Gebaren seines Freundes wieder zu sich, und er sank unter Tränen kraftlos auf einen Stuhl.
Am 22. September veränderte sich der Zustand meines Bruders zum Besseren, was, wie ich mir habe sagen lassen, oft dem Tod vorausgeht. Branwells Gebaren, seine Sprache undseine Empfindungen waren auf einzigartige Weise verändert, sanfter geworden, und die stille Ruhe höherer Gefühle schien sein ganzes Wesen zu erfüllen.
Branwell hatte beinahe sein ganzes Leben lang die Tröstungen des Glaubens zurückgewiesen und sich geweigert, seine vielen Verfehlungen zu bereuen. Dies hatte Papa und dem Rest der Familie unbeschreiblichen Herzschmerz verursacht. In dieser, seiner dunkelsten Stunde ergab sich Branwell – zu unserer Erleichterung – endlich der Reue. Zwei volle Tage lange sprach er voller Bedauern über nichts als sein vergeudetes Leben, seine missratene Jugend und seine Schande.
»In meinem gesamten vergangenen Leben habe ich nichts Großes oder Gutes vollbracht«, sinnierte er mit großem Kummer, als ich an der Reihe war, an seinem Bett zu wachen. »Ich habe nichts erreicht, womit ich die Zuneigung verdient habe, die mir meine liebste Familie zeigt.« Er ergriff meine Hand und rief:
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