Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
traf, war ich ein solch zitterndes Nervenbündel, sah ihn als einen solchen Geistestitanen, dass ich ihm nur die Hand schüttelte und kaum ein Wort herausbrachte. Und das Wenige, das ich sagte, war, wenn ich mich recht erinnere, unsäglich dumm. Das zweite Mal trafen wir uns bei einer Gesellschaft in seinem Haus in der Young Street. Mr. Thackeray hatte eine ganze Meute von Damen aus der Gesellschaft eingeladen, die mich kennenlernen wollten und alle wohl eine Art brillante literarische Berühmtheit erwarteten. Ich fürchte, ich habe sie sehr enttäuscht. Ich kannte niemanden, war schüchtern und unbeholfen und konnte ihnen nicht die anregende Konversation bieten, die sie sich wohl erhofft hatten. Als wir Damen uns in den Salon zurückzogen und die Herren ihrem Portwein überließen, floh ich in eine Ecke und verbrachte den größten Teil des Abends damit, mich leise mit der einzigen Person zu unterhalten, mit der ich mich wohlfühlte: der Gouvernante.«
Mr. Nicholls lachte wieder. »Das klingt ziemlich schrecklich.«
»Das war es auch. Wahrscheinlich fehlt es mir an Unbefangenheit und Selbstbewusstsein, um gut in die Londoner Gesellschaft zu passen, Sir, und ich denke, das wird sich auch nicht mehr ändern.«
Meine Antwort schien ihm zu gefallen. Erst Monate später begriff ich den Grund dafür.
Mr. Nicholls machte sich auf zu seinem einmonatigen Urlaub in Irland. Während ich früher seiner Abwesenheit kaum mehrals einen flüchtigen Gedanken gewidmet hatte, merkte ich nun, dass mir beim Abendessen sein Lächeln und sein angenehmes Lachen fehlten. Mit der Zeit war er in meinen Augen ein geschätztes Mitglied des häuslichen Kreises geworden, wie ein lieber Vetter oder ein Bruder. Er wartete inzwischen nicht mehr darauf, dass ich ihn zum Essen einlud; er lud sich jetzt selbst ein.
An meinem Geburtstag im Jahre 1852 überraschte mich Mr. Nicholls mit einem Geschenk – der ersten solchen Gabe, seit er sich sieben Jahre zuvor »erdreistet« hatte, Schreibpapier für meine Schwestern und mich zu kaufen.
»Mir ist aufgefallen, dass Ihr Exemplar des
Common Book of Prayer
recht abgegriffen ist«, sagte er, kurz bevor wir uns an jenem Aprilnachmittag zum Essen hinsetzten.
»Das ist es wahrhaftig, Mr. Nicholls. Mein Gebetbuch ist so alt und schon bei so vielen Sonntagsgottesdiensten benutzt worden, dass es beinahe aus dem Einband fällt. Ich vermute, nur der Glaube hält es noch zusammen.«
Er zog ein brandneues, sehr schön gebundenes Exemplar hervor und legte es mir in die Hände. »Ich hoffe, dieses hier wird an seiner Stelle gute Dienste leisten.«
Ich war überrascht und dankbar. »Vielen Dank, Mr. Nicholls. Wie aufmerksam von Ihnen.«
»Herzliche Glückwünsche zum Geburtstag, Miss Brontë«, sagte er mit einem bescheidenen Lächeln.
In den folgenden Monaten fiel es mir immer noch sehr schwer, an
Villette
weiterzuarbeiten. Ich bemerkte, dass sich Mr. Nicholls’ Verhalten mir gegenüber zu ändern begann. Ich spürte, wie sein Blick auf mir ruhte: in der Kirche, wenn er mir beim Essen gegenübersaß, wenn er in der Sonntagsschule hereinschaute, während ich unterrichtete, oder wenn er mich auf der Straße traf. Er war nun oft niedergeschlagen, wennwir beieinander waren, redete häufig von Ausbürgerung aus seiner Heimat, und ich bemerkte, dass er sich bei unseren Gesprächen eine seltsame, beinahe fieberhafte Zurückhaltung auferlegte.
Lange wagte ich kaum, diese Veränderung für mich zu deuten, noch viel weniger, sie mit einem anderen Menschen zu besprechen. Emily, Anne und Ellen hatten alle früher einmal behauptet, Mr. Nicholls läge etwas an mir und er würde es gern sehen, wenn ich diese Gefühle erwidern könnte. In meinem Groll auf ihn hatte ich während dieser ersten Jahre kaum vermocht, diese Behauptungen für bare Münze zu nehmen. Nun sagte ich mir, dass ich mich irrte oder mir alles nur einbildete.
In jenem Herbst erkundigte sich Mr. Nicholls wiederholt nach dem Fortschritt meines Romans. Es schien ihn zu bekümmern, genau wie Mr. Williams und Mr. Smith, dass das Schreiben mehr Zeit als erwartet in Anspruch nahm. Endlich hatte ich auch den dritten Band von
Villette
vollendet und schickte das Manuskript an meinen Verleger, mit der ausdrücklichen Anweisung, die Veröffentlichung bis nach dem Erscheinungsdatum von Mrs. Gaskells neuem Roman
Ruth
hinauszuzögern, damit die beiden Bücher nicht miteinander konkurrierten. Dann fuhr ich nach Brookroyd, um bei Ellen einen bitter nötigen,
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