Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
vor Anne. »Es kam mir schon so vor, als hätte ich eine Familienähnlichkeit bemerkt. Es ist mir ein Vergnügen, Sie beide kennenzulernen.«
»Angenehm, Sie kennenzulernen, Sir.« – »Gleichfalls, Sir«, waren Branwells und Annes Antworten. Emily sagte, wie es für sie typisch ist, gar nichts.
»Es ist schön, Sie beide einmal wiederzusehen«, meinte der lebhaftere Mr. Grant unter weiterem Händeschütteln und Verneigen. Ich hielt Mr. Grant für einen selbstgefälligen Snob, von seiner hochmütig in die Luft gereckten Nase und dem erhobenen Kinn bis hin zu den schwarzen Galoschen und den Schuhen mit den eckigen Kappen; trotzdem schien er ein sehr engagierter und hingebungsvoller Gemeindepfarrer zu sein. »Werden Sie den gesamten Sommer zu Hause verbringen?«
»Leider muss ich schon in Kürze wieder abreisen«, antwortete Branwell fröhlich, »aber Anne bleibt wohl für immer hier. Sie hat anscheinend genug vom Leben als Gouvernante.«
»Nun«, erwiderte Mr. Grant, »das ist nur verständlich. Auf einem abgelegenen Landsitz eingesperrt zu sein, meilenweit von jeder Ansiedlung entfernt, ohne jeden Zugang zur feineren Gesellschaft – das muss wahrlich sterbenslangweilig sein.«
»Das dachte ich zunächst auch«, bemerkte Branwell. »In den ersten drei Monaten hat mich die Langeweile so sehr geplagt, dass ich mir das Haar ausraufen wollte, aber allmählich finde ich Geschmack an diesem Ort.«
Anne runzelte die Stirn und sagte unvermittelt: »Bitte entschuldigen Sie mich, ich möchte wirklich Papa so bald wie möglich wiedersehen.«
»Ich komme mit«, meinte Emily.
Meine Schwestern eilten davon. Ich hätte mich ihnen liebend gern angeschlossen und wollte mich gerade verabschieden, als Branwell sagte: »Möchten die Herren sich nicht zum Tee zu uns gesellen? Wenn ich mich nicht irre, haben Tabby und Martha zu unserem Empfang sicherlich ein wahres Festmahl zubereitet.«
Mr. Grant lächelte herzlich. »Vielen Dank, die Einladung nehmen wir wirklich gern an.«
Mir wurde das Herz schwer. Ich hatte mich auf eine vertraute Familienrunde gefreut, nur wir fünf, um Annes und Branwells Heimkehr zu feiern, und ich glaube, so war es Papa auch gegangen. Jedes Mal wenn wir unseren Tisch mit den Hilfspfarrern teilten, hatte ich feststellen müssen, was für eine selbstsüchtige, eitle und hohlköpfige Spezies das war – und besonders mit Mr. Nicholls wollte ich nicht gern zusammen essen müssen. Mein Bruder jedoch war seit jeher ein geselliges, menschenfreundliches Wesen – und jetzt waren die Würfel eben gefallen.
»Ich sehe die Herren dann später im Haus«, sagte ich und zwang mir ein Lächeln auf die Lippen. Dann hastete ich hinter meinen Schwestern den Weg zum Pfarrhaus entlang.
Als ich durch die Hintertür vom Hof ins Haus trat, wehte mir der köstliche Duft von Roastbeef und Yorkshire Pudding 3 um die Nase. Meine Schwestern waren beide in der Küche in die Hocke gegangen und nahmen enthusiastische Hundeküsse von ihren jeweiligen Haustieren entgegen. Unsere englische Dogge gehörte Emily. Flossy war ein Geschenk von Annes Schülerinnen; zu ihrem großen Leidwesen hatten die Mädchen den wunderschönen Spaniel so übel behandelt, dass Anne sich gezwungen sah, ihn nach Hause zu bringen, wo er unter Emilys hervorragender Obhut stand.
Tabby (über den Herd gebeugt, wo die Kartoffeln kochten) und Martha (die Puddings aus der Backröhre zog) jauchzten bei Annes Anblick beide vor Freude, und dann lagen sich alle in den Armen.
»Wie wir dich vermisst haben, Mädel!«, sagte Tabby und wischte sich mit dem Schürzenzipfel die Freudentränen aus den Augenwinkeln.
»Wie gut es ist, Sie zu sehen, Miss Anne!«, rief Martha. Kaum siebzehn Jahre alt, war Martha Brown eine fröhliche, schlanke junge Frau mit weichem dunklem Haar und einem angenehmen Gesicht. Die zweitälteste Tochter von Mary und John Brown aus dem nur wenige Türen entfernten Küsterhaus war im zarten Alter von dreizehn Jahren zu uns gezogen, um den Löwenanteil der Hausarbeit zu übernehmen. »Weil doch Roastbeef und Yorkshire Pudding Ihr Lieblingsessen ist und das vom guten Master Branwell«, erklärte Martha Anne, »da haben wir uns wirklich angestrengt, für Ihre Rückkehr ein ordentliches Sonntagsessen auf den Tisch zu bringen, auch wenn heute Dienstag ist.«
»Ich danke euch beiden«, antwortete Anne mit einem Lächeln.
»Ich hoffe, ihr habt genug für zwei weitere Esser gekocht«, fügte ich hinzu, »denn unser guter Master Branwell hat gerade
Weitere Kostenlose Bücher