Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
würden sich niemals für eine Frau wie mich interessieren. Ich bin nie hübsch gewesen, und nun bin ich noch dazu alt. Wie viele Möglichkeiten habe ich wohl noch, eine Ehe zu schließen? Mr. Nicholls mag arm sein, aber er liebt mich! Außerdem liebt er mich so, wie ich bin, nicht die ›gefeierte Schriftstellerin‹, die aus mir geworden ist. Meinst du, dass es viele andere Männer gibt, die acht lange Jahre treue Dienste geleistet und auf mich gewartet hätten?«
»Mr. Nicholls ist nichts als ein Hilfspfarrer! Weitaus schlimmer: er kommt aus dem Nichts! Aus einer bettelarmen Familie ungebildeter irischer Bauern! Kannst du dir wirklich vorstellen, die Ehefrau eines solchen Mannes zu werden? Jeden Herbst überquert er die Irische See, um
seine Leute
zu besuchen, wie er sie nennt, und du kannst darauf wetten, dass er von dir erwarten wird, ihn zu begleiten. Ich weiß, wie
seine Leute
sind, mein Kind. Ich komme selbst aus einer solchen Familie und bin aus gutem Grund nie mehr nach Irland zurückgekehrt. Die armen Iren sind nicht wie die Engländer. Sie haben keine Manieren und keine gute Erziehung; sie sind faul, schlampig und nachlässig in allem, was den Haushalt und die Hygiene betrifft. Ihre täglichen Gewohnheiten und Gebräuche würden dich verwirren und entsetzen; und geistige Interessen und Betätigungen sind ihnen völlig gleichgültig. Ist das die Familie, die du dir wünschst?«
Mir stieg die Hitze in die Wangen. Liebes Tagebuch, ich schäme mich, es eingestehen zu müssen, aber diese Erwägungenmachten mir tatsächlich ein wenig zu schaffen. Ich war nicht genug mit den Dingen der Welt vertraut, um beurteilen zu können, ob Papas Behauptungen der Wahrheit entsprachen oder nur seine eigenen Erfahrungen widerspiegelten, doch hatte ich schon von anderen derlei Aussagen über die irische Nachlässigkeit gehört. Wenn ich mir als junge Frau gestattet hatte, von einer Ehe zu träumen, so hatte ich mir immer vorgestellt, dass ich in einer neuen, großen Familie willkommen geheißen würde, die nicht nur liebevoll, sondern auch belesen, kultiviert und gebildet wäre: intelligente Leute, deren Verstand dem meinen ähnlich war und die in Verhältnissen lebten, die vielleicht bescheiden waren, aber zumindest den meinen gleichkamen. Ich wusste jedoch, dass dies nur sinnlos eitle und stolze Träume waren, denen keine große Bedeutung zukam. Und ich schob diesen Gedanken von mir.
»Man kann und darf einen Mann nicht nach seiner Familie beurteilen«, antwortete ich meinem Vater heftig. »Mr. Nicholls weist keinen der Fehler auf, die du gerade beschrieben hast – wenn es denn welche sind –, und das ist das Einzige, was für mich wichtig ist.«
»Ich verstehe es nicht. Wie kannst du es auch nur in Erwägung ziehen, einen bettelarmen Hilfspfarrer zu heiraten?«
»Ich glaube, wenn ich überhaupt heirate, Papa, muss ich notgedrungen einen Hilfspfarrer heiraten; nicht irgendeinen Hilfspfarrer, sondern deinen Hilfspfarrer – und wenn ich ihn auserwähle, dann muss er mit uns in diesem Haus leben, denn ich werde dich nie verlassen.«
Papa erhob sich, und seine Augen sprühten vor Zorn. »Niemals werde ich es zulassen, dass ein anderer Mann in diesem Haus lebt! Verstehst du mich? Niemals!« Und mit diesen Worten stolzierte er aus dem Zimmer.
Eine ganze Woche lang sprach Papa kein Wort mit mir. DieAtmosphäre im Haus war so angespannt, dass ich manchmal dachte, ich könnte die Luft kaum atmen. Eines Morgens saß ich allein beim Frühstück, als ich zu hören meinte, wie Tabby in Papas Studierzimmer humpelte und ihn lauthals ausschimpfte.
»Diese Narrheit dauert nun lange genug, Sir!«, rief die alte Frau. »Sie gehen an der armen jungen Miss im Flur vorüber, ohne ihr auch nur einen freundlichen Blick zuzuwerfen oder ein gutes Wort zu sprechen. Sie rennen im Haus herum wie ein wildgewordener Tyrann. Was gibt Ihnen das Recht, Sir, einer Frau von beinahe vierzig Lenzen zu sagen, was sie zu tun und zu lassen hat? Wollen Sie Ihre letzte Tochter auch noch umbringen, Sir? Dies ist vielleicht ihre einzige Chance auf ein wahres Glück. Lassen Sie sie doch gewähren, Sie törichter alter Mann!«
An jenem Nachmittag erteilte mir Papa widerwillig die Erlaubnis, »diesen Herren zu treffen«, ohne jedoch weitergehende Versprechungen zu machen. Das war alles, was ich brauchte. Noch am gleichen Tag schrieb ich an Mr. Nicholls und unterrichtete ihn von meiner Absicht: Ich wollte gern unsere persönliche Bekanntschaft erneuern, und
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