Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
gerade, dachte ich zufrieden, nicht nur einen Schatz versteckt, sondern auch einen Schmerz begraben, einen Schmerz, den ich schon vor zehn Jahren hätte begraben sollen.
Plötzlich verspürte ich ein beinahe magisches Gefühl der Erleichterung, als hätte mich eine Fee mit ihrem Zauberstab berührt und mir damit eine ungeheure Last von der Seele genommen. Mit einem Lächeln bemerkte ich, dass auch mein Kopfschmerz verschwunden war.
Als ich nach Hause kam, saß Papa in seinem Studierzimmer und las die Morgenzeitung. Ich setzte mich neben ihn an das lodernde Kaminfeuer.
»Papa, ich muss dir etwas gestehen.«
Er legte Zeitung und Vergrößerungsglas zur Seite. »Ja, meine Liebe, was denn?«
»Ich habe in den vergangenen sechs Monaten an Mr. Nicholls geschrieben.«
»Was? Du hast ihm geschrieben? Was meinst du damit? Briefe?«
»Ja, Papa, Briefe. Und er hat mir Briefe geschrieben. Ich habe mich im September auch mit ihm getroffen, bei den Grants. Ich weiß, dass du diese Verbindung ausdrücklich verboten hast, und ich habe auch ein schlechtes Gewissen, weil ich dich so getäuscht habe.«
Nach einem kurzen Schweigen sagte er mit gerunzelter Stirn: »Ich bin froh, dass du es mir gesagt hast. Ich hoffe, du hast es nun überwunden und deinen Fehler eingesehen. Täuschung und Unaufrichtigkeit sind des Teufels. Versprich mir, dass du diesem Mann nie wieder schreibst oder ihn triffst, dann vergebe ich dir.«
»Ich bitte dich nicht um Vergebung, Papa, und ich werde dir auch kein solches Versprechen machen. Ich bin im Gegenteil hier, um dir zu sagen, dass ich die Absicht hege, Mr. Nicholls wieder zu schreiben und ihn wieder zu treffen, und zwar eine ganze Zeit lang, hoffe ich. Das heißt, wenn er mich überhaupt noch sehen will.«
»Nur über meine Leiche!«
»Ich hoffe, das wird nicht nötig sein, Papa. Aber treffen werde ich ihn. Ich sage damit nicht, dass ich Mr. Nicholls zu heiraten beabsichtige. Doch ich bin entschlossen, ihn besser kennenzulernen, damit wir beide die Gelegenheit haben, herauszufinden, ob wir wirklich zueinander passen oder nicht – und das ist mit deinem Wissen und deiner Zustimmung sehr viel einfacher als ohne sie.«
»Ich werde diese Zustimmung niemals geben! Ich sage dir, er ist nicht der Richtige für dich, Charlotte!«
»Papa, hör mir gut zu. Ich bin kein junges Mädchen mehr, nicht einmal mehr eine junge Frau. Nach deinem Tod werde ich 300 Pfund besitzen, dazu noch das Geld, das ich selbstverdient habe, und ich werde kein Zuhause mehr haben, in dem ich wohnen kann. Vielleicht kann ich dann immer noch schreiben und mehr Geld verdienen, aber es ist nicht gesagt, dass sich mein nächstes Werk gut verkauft. Ich kann von dem Einkommen, das mein Geld abwirft, einen bescheidenen Lebensunterhalt bestreiten, aber ich werde allein sein – mutterseelenallein –, eine alte Jungfer, einsam, verbittert und zweifellos von allen bemitleidet. Ist das ein Schicksal, das du mir wünschen würdest? Möchtest du nicht lieber, dass ich heirate, wenn ich einen Mann finde, mit dem ich glücklich sein kann?«
»Zum Teufel, Mädchen! Begreifst du denn nicht? Du bist meine einzige noch lebende Tochter. Du bist alles, was ich habe!« Tränen schossen ihm in die Augen, und seine Stimme versagte. »Dein Leben lang bist du von Krankheiten geplagt gewesen. Du bist, fürchte ich, nicht stark genug, um zu heiraten.«
Ich spürte, wie sich meine Wangen mit Röte überzogen, weil ich die unausgesprochene Bedeutung seiner Worte verstand. »Frauen heiraten jeden Tag und bekommen Kinder, Papa. Ich kann dich vielleicht noch überraschen. Ich bin stärker, als du denkst.«
Er schüttelte den Kopf und wischte sich über die Augen. »Ich habe es schon gesagt, und ich sage es jetzt eben noch einmal. Wenn du unbedingt heiraten musst, dann wähle einen höherstehenden Mann – einen erfolgreichen Mann, einen Mann aus einer bedeutenden Familie, einen Mann, der dir ebenbürtig ist, dir, einer der meistgefeierten Schriftstellerinnen unserer Zeit. Einen Mann wie George Smith!«
»Mr. Smith ist verlobt, Papa.«
»Was? Wirklich?«
»Ich habe es erst vor ein paar Tagen erfahren. Mr. Smith hatsich in eine junge Schönheit aus besten Kreisen verliebt, wie ich es immer vorhergesagt hatte.«
»O je. Was für eine Enttäuschung. Ich hatte große Hoffnungen bezüglich einer solchen Verbindung gehegt.«
»Ich dagegen nie. Und du darfst dir in diesem Punkt keine Illusionen mehr machen, Papa. Männer vom Schlage eines Mr. Smith
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