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Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë

Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë

Titel: Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Syrie James
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heftig pochendem Herzen in der tintenschwarzen Dunkelheit der stürmischen Nacht.
    Schon wieder Belgien.
    Als das erste trübe Licht der kalten Dezemberdämmerung durch die Fensterläden fiel, dachte ich über meinen Traum nach. Es waren seit meiner Rückkehr aus Belgien zehn Jahre vergangen. Ich hatte geglaubt, dass ich mich längst von meiner unglückseligen Beziehung zu Monsieur Héger befreit hatte. Oder hatten meine Schwestern recht? War ich wirklich all die Zeit in der Vergangenheit vergraben gewesen, hatte beinahe gegen meinen Willen und wider jegliche Vernunft diesen Götzen verehrt, einen Mann, der mich nicht geliebt hatte? Hielt mich diese Besessenheit auch jetzt noch zurück, hinderte sie mich daran, mein Herz der Liebe eines anderen Mannes zu öffnen?
    Oh! Oh! Warum, o warum, fragte ich mich plötzlich, hatte ich so viel Zeit verschwendet, hatte Bedauern über etwas empfunden, das nicht sein konnte? Eine Welle des Schmerzes kam über mich, und ich weinte. Wie lange ich so verharrte, kann ich nicht sagen. Ich lag im Bett und schluchzte aus tiefster Seele. Ich ließ all den Kummer aus mir herausströmen, den ich mir im letzten Jahrzehnt versagt hatte. Ich weinte um meine Schwestern und meinen Bruder, die viel zu früh aus dem Leben gerissen wurden. Ich weinte, weil mir ihr Verlust das Herz gebrochen hatte. Und ich weinte über meine eigene Torheit, dass mich eine geheime Verliebtheit so viele Jahre lang hatte verzehren und blind machen können.
    Endlich waren meine Tränen versiegt. Mein Kopf schmerzte, mein Hals war rau, meine Augen brannten. Gleichzeitig nagte etwas an mir: Etwas Wichtiges war noch zu tun, begriff ich.
    Ich stand rasch auf und kleidete mich an. Aus meiner Kommodenschublade nahm ich das Rosenholzkästchen und packte das kleine, mit Bändern umwundene Bündel Briefe aus, das darin lag. Ich schaute zum Kamin. Er war eiskalt. Außerdemwar es noch zu früh für ein Feuer in der Küche. Aber Verbrennen war ohnehin nicht das angemessene Schicksal für diese Briefe, beschloss ich.
    Die Sonne war nun beinahe aufgegangen. Ich achtete nicht auf den Schmerz, der noch in meinem Schädel pochte, und ging auf leisen Sohlen in die Speisekammer. Dort fand ich ein dickwandiges Glasgefäß, das letzte Überreste einer Marmelade enthielt, die ich im Sommer zuvor gemacht hatte. Ich füllte die Reste auf einen Teller und wusch das Glas und seinen Deckel sorgfältig ab. Dann rollte ich Monsieur Hégers Briefe auf, stopfte sie in das Gefäß und verschloss es. Gut gegen die Kälte vermummt, machte ich mich mit dem Glas auf den Weg über das nebelbedeckte Moor zu jener fernen Mulde, in der ich im Traum meinen Schwestern begegnet war.
    Es war noch kein Schnee gefallen, aber der Boden war hart gefroren und von Raureif bedeckt. Ich wusste, dass es unmöglich sein würde, darin zu graben, aber ich hatte ohnehin etwas anderes vor. Das Ziel meiner Wanderung war ein uralter, knorriger Baum, der neben dem Fluss wuchs und unter dessen schattigen Zweigen meine Schwestern und ich manche angenehme Sommerstunde mit der Lektüre eines Buchs verbracht hatten. Obwohl der Baum so alt war, hatte er doch noch festes Holz. Ich wusste von einem großen Hohlraum in der Nähe seines Wurzelwerks, der teilweise von einem dichten Teppich von Gestrüpp und Kletterpflanzen überdeckt war.
    Ich ging sofort zu dem Baum hin. Wie alle anderen war er gegenwärtig nur ein winterliches Skelett. Der Fluss in der Nähe war zu einem lauten, wilden Strom angeschwollen, dessen dunkles Wasser beinahe zu dampfen und das Holz auseinanderzureißen schien. Ich kniete mich auf den harten, feuchten Boden, schob das gefrorene Moos und die Rankenbeiseite und fand den Hohlraum, der so tief wie mein Arm war.
    »Bist du dir bewusst«, fragte eine innere Stimme, »was du hier machst? Hier imitiert das Leben die Kunst und nicht umgekehrt.« Ich hielt überrascht inne. In gewisser Weise, wurde mir klar, traf das zu. In
Villette
vergräbt Lucy Snowe die kostbaren Briefe, die ihr Dr. Graham geschrieben hat, als sie ahnt, dass ihre Beziehung zu Ende ist. Aber diese Szene, das begriff ich nun, war meinem eigenen unbewussten Wunsch entsprungen, dies selbst zu tun.
    Ich stieß das Glasgefäß in den Hohlraum.
»Au revoir, Monsieur Héger«
, sagte ich mit fester Stimme und ohne Bedauern.
    Ich zog den Vorhang aus Moos und Ranken wieder vor das Loch. Dann erhob ich mich, stand da, die Arme um den Körper geschlungen, und bibberte in der frühmorgendlichen Luft. Ich hatte

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