Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
Tiefgang und Einsicht würdigen; aber dazu gibt es ja Freunde und Schriftstellerkollegen. Ein Mann kann einer Frau nicht alles sein, und das sollte man auch nicht von ihm erwarten. Die Verschiedenheit unserer Begabungen kann doch ein Segen sein, Charlotte. Mr. Nicholls würde Sie ein wenig mehr in der Wirklichkeit dieser Welt verankern, und Sie würden ihm nahebringen, dass es auch in Sekten Gutes gibt, wo er es nicht vermutet hätte.«
Darüber dachte ich nach. »Mr. Nicholls empfindet tatsächlich eine aufrichtige Liebe für alles Gute, wo immer er es sieht.« Wir gingen gerade über die Felder zurück, und als wir einen Zauntritt erreichten, blieb ich stehen und fragte: »Wie schaffen Sie das alles, Mrs. Gaskell? Wie finden Sie die Zeit zum Schreiben, da Sie doch einen Ehemann, ein Haus und Kinder zu versorgen haben?«
»Es ist nicht leicht, aber eine kluge Frau kann immer Zeit für die Dinge finden, an denen ihr etwas liegt.« Sie schaute mich mit großem Ernst an. »Wenn Ihr Vater nicht dagegen wäre, würden Sie Mr. Nicholls heiraten wollen? Lieben Sie ihn?«
»Ich wünschte, ich wüsste es.«
»Wenn Mr. Nicholls Sie wirklich so sehr liebt, wie Sie es sagen, dann denke ich, Sie schulden es ihm und sich selbst, das herauszufinden.«
Irgendetwas hielt mich zurück. Obwohl Mr. Nicholls und ich einander weiterhin insgeheim Briefe schrieben, in denen er in der leidenschaftlichsten Sprache seine Gefühle ausdrückte, konnte ich mich aus unerfindlichen Gründen nicht dazu durchringen, den nächsten wichtigen Schritt zu machen: Papazu trotzen und auf meinem Recht zu bestehen, meine Beziehung zu meinem möglichen Bräutigam offen zu führen.
Dann hatte ich eines Nachts einen Traum. Es war Mitte Dezember, und der Regen prasselte auf das Dach und klatschte an die Fenster, und der Ostwind heulte durch die Traufen wie eine Banshee 1 .
In meinem Traum war kein Sturm. Es war ein strahlender, wolkenloser Sommertag. Ich wanderte über das Moor und hatte gerade den Abstieg zu einer vertrauten bewaldeten Mulde begonnen, als ich in der Ferne zwei Gestalten wahrnahm, die am Flussufer auf mich zugingen. Es waren Emily und Anne! Mein Herz pochte wie wild vor Schreck und Freude, als ich halb zu ihnen den Hang hinunterrannte, halb über den steinigen Pfad in ihre Richtung flog.
»Emily! Anne! Sei ihr’s wirklich?«
Ich sehnte mich danach, sie in die Arme zu schließen, doch die Schwestern in meinem Traum hielten sich von mir fern, und ihre Mienen waren von Missbilligung verfinstert und umwölkt. »Wir können nicht lange bleiben«, sagte Emily. »Wir sind nur gekommen, um dir eine Botschaft zu überbringen.«
»Was für eine Botschaft?«
»Wir haben dich beobachtet, und wir sind sehr enttäuscht von dir«, sagte Anne.
»Charlotte, du bist lebendig«, fügte Emily hinzu. »Dir stehen alle Gaben des Lebens zur Verfügung. Und doch missachtest du sie und verhältst dich, als wärest du so tot und begraben wie wir beide.«
»Was meinst du damit? Wieso verhalte ich mich, als wäre ich tot und begraben?«
»Du bist in der Vergangenheit begraben, genau wie Branwell es war«, antwortete Anne.
»Das ist nicht wahr«, erwiderte ich zu meiner Verteidigung.
»Glaubst du, wir kennen dein Geheimnis nicht?«, fragte Emily. »Glaubst du, wir können es nicht sehen?«
»Welches Geheimnis? Was könnt ihr sehen?«
»Charlotte, wir wissen, was in Brüssel in jener Nacht im Garten geschehen ist«, sagte Anne.
»Ihr wisst es?«, fragte ich zutiefst beschämt.
»Wir wissen es«, wiederholte Emily, »und wir wissen von den Briefen. Wir wissen, dass du sie immer noch liest.«
Meine Wangen loderten auf. »Es ist Jahre her, dass ich diese Briefe das letzte Mal angesehen habe.«
»Und doch denkst du immer noch an ihn«, klagte mich Emily an. »Alle Helden in deinen Büchern außer einem sind Professoren oder Belgier oder beides! Selbst deinen Mr. Rochester hast du nach seinem Vorbild geschaffen! Woran liegt das deiner Meinung nach?«
Ich konnte nicht antworten.
»Die Erinnerung an Monsieur Héger hat eine zwanghafte Vorstellung in deinen Gedanken verankert, die dich blind gegenüber allem macht, das unmittelbar vor deinen Augen liegt«, erklärte Emily.
»Du hast dich davon schon viel zu lange zurückhalten lassen«, fügte Anne hinzu.
»Es ist Zeit«, sagt Emily, »Zeit, einen Schritt vorwärts zu tun.«
»Einen Schritt vorwärts zu tun«, ergänzte Anne, »und Belgien hinter dir zu lassen.«
Ich erwachte schwer atmend und mit
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