Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
stellte fest, dass ich in den Armen meines schlafenden Liebsten lag, die Wange warm an seine Brust geschmiegt. Meine Erinnerung regte sich. Als ich die Ereignisse der Nacht erneut bedachte, überkamen mich Wonneschauer, und ich konnte mich eines Lächelns nicht erwehren.
»Guten Morgen«, sagte eine tiefe Stimme an meinem Haar, während sich starke Arme um mich legten.
»Guten Morgen«, war meine geflüsterte Antwort.
»Hast du gut geschlafen?«
»Ja. Wenn ich überhaupt geschlafen habe.«
Ich hörte und spürte sein kehliges Lachen. Er drehte sich ein wenig um. Wir schauten einander ins Gesicht und lächelten uns an, die Köpfe in dasselbe Kissen geschmiegt. Mit den Fingerspitzen fuhr er mir zärtlich über die Wange. »Was denkst du gerade?«, fragte er leise.
»Ich habe gedacht, dass die Welt mir heute ein ganz anderer Ort zu sein scheint als noch gestern.«
Er küsste mich und lächelte.
»Arthur«, sagte ich schüchtern.
»Ja, Liebste?«
»Letzte Nacht … war ich … habe ich?« Ich brachte es einfach nicht fertig, die Frage zu Ende zu sprechen.
Er errötete. »Du warst entzückend. Du bist entzückend. Und außerdem glaube ich nicht, dass es bei derlei Dingen ein Richtig und ein Falsch gibt.«
»Du glaubst …?«
Er musterte mich über das Kissen hinweg. »Ich kann doch sehen, dass du etwas auf dem Herzen hast, das du mich fragen willst. Nun, mach schon, liebe Frau. Heraus damit.«
Jetzt spürte ich, wie mir das Blut in die Wangen stieg. »Nun, ich denke, ich habe mich gefragt, ob du … ob es je …«
»Es hat, so wie du es meinst, nur eine einzige andere Frau in meinem Leben gegeben. Es war vor langer Zeit, und natürlich sind die Dinge niemals so weit gediehen. Wolltest du das wissen?«
Ich nickte. Ein kleiner Schauer überrieselte mich. Der Gedanke, dass ich Arthurs erste Liebe war, so wie er mein erster Liebhaber war, erfüllte mich mit Freude. »Darf ich fragen, wer sie war?«
Er küsste mich mit einem belustigten Funkeln in den Augen. »Willst du wirklich ausgerechnet jetzt darüber sprechen?«
»Ich bin nur neugierig.«
Seine Hand wanderte an meinem Arm auf und ab und ließ mir Schauder über den Rücken laufen. »Sie war die Tochter eines Lehrers. Ich war siebzehn. Sechs Monate lang hatte ich mein Herz und meinen Verstand verloren. Bis sie die Sachevon einem Tag auf den anderen abbrach und mit einem fliegenden Händler davonlief.«
»Einem fliegenden Händler?«
»Er verkaufte Hausrat, wenn ich mich recht erinnere, von einem Karren. Ob es die Töpfe und Pfannen waren, die sie zu ihm hinzogen, oder die Aussicht auf Reisen und Abenteuer, das habe ich nie herausgefunden. Aber eines Tages schaute ich auf, und sie war fort.«
In seinen Augen blitzte bei diesen Worten so viel Humor, dass ich einfach lächeln musste. »Hast du sie geliebt?«
»Ich dachte es damals. Aber was weiß man schon mit siebzehn? Es hat mich sicherlich vorsichtiger gemacht. Von diesem Tag an habe ich sehr sorgfältig darauf geachtet, wem ich mein Herz schenken wollte.« Er ergriff meine Hand, hob sie an die Lippen und küsste sie. »Wenn ich heute auf diese Zeit zurückblicke, kann ich nur innerlich zusammenzucken, da mir klar geworden ist, wie wenig wir zusammengepasst haben. Ich danke der glücklichen Fügung, dass sie die Verbindung abgebrochen hat. Sonst hätte ich Banagher niemals verlassen, hätte auch nie die Universität besucht oder wäre nach England gegangen.«
»Ich bin auch dankbar«, sagte ich und fügte verwundert hinzu: »War sie tatsächlich die Einzige, Arthur, in all den Jahren?«
»Ja.«
»Und seit du nach Haworth gekommen bist …«
Er zog mich an sich, und unsere Körper fanden in seiner warmen Umarmung in erneutem Begehren zueinander. »Seit dem Tag, an dem wir uns kennenlernten«, sagte er mit tiefer, heiserer Stimme und schaute mich innig an, »seither hatte ich keine Augen für irgendeine andere Frau außer dir, meine Liebste.« Dann schloss sich sein Mund über meinem, und jegliches Gespräch versiegte.
Später an jenem Morgen fuhren wir an der Küste von North Wales entlang nach Bangor, wo wir vier Nächte blieben. Trotz des nicht unbedingt günstigen Wetters waren wir entschlossen, das Beste aus unserem Aufenthalt dort zu machen. Wir mieteten ein Gig mit Kutscher und bekamen herrliche Landschaften zu sehen. Eine der Ausfahrten führte von Llanberis nach Beddgelert, an einem tief in einer steilen Schlucht verlaufenden Fluss entlang und vorüber an Seen und rauschenden
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