Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
eine Woche. Wir sind auf Hochzeitsreise.«
»Auf Hochzeitsreise? Was? In Ihrem Alter? Wer hätte das gedacht? Lieben Sie ihn sehr?«
Diese Frage traf mich unvorbereitet. Ich errötete. Was ging es diese junge Dame an, überlegte ich, dass sie etwas so Persönliches von mir zu wissen verlangte? Gleichzeitig dachte ich unwillkürlich: Was empfand ich wirklich für meinen Gatten? In Gedanken antwortete ich: Ich empfand eine überwältigende Zuneigung, Bewunderung und Dankbarkeit, die in unserer neuen intimen Vertrautheit gewachsen waren und die sich mit jedem Tag weiter zu einem sehr warmen und tiefen Gefühl entwickelt hatten. War das Liebe? Oh! Plötzlich wurde mir mit ungeheurer Freude klar – ja, es war Liebe! Dieses zärtliche Gefühl war weitaus tiefer und verlässlicher, aufrichtiger und wahrer als die alles verzehrende, rastlose Leidenschaft, die ich früher einmal dafür gehalten hatte. Ich liebte meinen Mann wirklich. Ich liebte ihn!
Ehe ich antworten konnte, sagte die junge Frau: »Wie lange Sie für die Antwort brauchen! Ich wollte Ihnen kein Unbehagen bereiten. Ihr Mann ist Pfarrer, seiner Kleidung nach zu urteilen?«
»Er ist Hilfspfarrer.«
»Nur Hilfspfarrer? Er sieht viel zu alt dafür aus.«
Ich war gereizt. »So alt ist er nun auch wieder nicht.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, einen Hilfspfarrer zu heiraten. Er muss sehr arm sein.« Sie berührte meinen Arm und schaute mich mitleidsvoll an. »Jetzt verstehe ich. Kein Wunder, dass Sie mir Ihre Liebe zu ihm nicht begeistert eingestanden haben. Sie müssen sich in Ihrem Alter verzweifelt gewünscht haben, überhaupt zu heiraten – aber keine andere Wahl zu haben, als einen armen Hilfspfarrer zu ehelichen – das tut mir wirklich leid. Das bedeutet ja für jede Frau einen großen Rückschritt.«
Ich starrte sie fassungslos an und erinnerte mich nur mit Mühe daran, dass die Jungen, Schönen und Reichen kaumeinmal taktvoll waren. »Gewiss sehe ich mit ihm keiner großartigen Zukunft entgegen«, erwiderte ich mit ruhiger Stimme, »aber ich bin davon überzeugt …«
Da weiteten sich plötzlich die Augen der jungen Frau vor Entsetzen, sie blickte auf, und ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf jemanden zu meiner Rechten.
Ich fuhr herum – nur um Arthur zu sehen, der wenige Schritte hinter uns stand. Die tiefe Verletzung und Scham auf seinem Antlitz machte mir klar, dass er zumindest den letzten Teil unseres Gesprächs mit angehört hatte. »Arthur!«, fing ich an. Doch er wandte sich ohne ein Wort ab und ging mit bedächtigen Schritten von mir weg.
Ich spürte, wie mir alles Blut aus dem Gesicht wich, es überlief mich zunächst eiskalt und dann siedend heiß. »Entschuldigen Sie mich«, sagte ich zu der jungen Dame und eilte meinem Ehemann nach. Seine Schritte waren jedoch viel größer als meine, sodass es eine Weile dauerte, bis ich ihn auf der anderen Seite des Schiffes eingeholt hatte, wo er an der Reling stand und traurig auf das Meer hinausblickte.
»Charlotte, ich bin kein Narr. Ich kenne dich zu lange und zu gut, um irgendwelche Illusionen zu hegen. Ich weiß, dass du mich nicht liebst.«
»Arthur!«
»Ich habe
Villette
gelesen. Ich erinnere mich daran, was deine Geschwister gesagt haben. Ich weiß, wem dein Herz gehört – und auch in Zukunft gehören wird.«
Ich holte tief Luft, war zugleich erschrocken und schmerzlich berührt, dass mein Ehemann einer solch irrigen Meinung anhing. »Nein! Warte …«
»Mir ist klar, welche Art von Mann du dir als Gatten erträumt hast, Charlotte, und wie ungünstig der Vergleich mit der Wirklichkeit ausfällt. Die junge Frau hatte recht, du hastunter deinem Stand geheiratet. Ich nehme an, du warst tatsächlich verzweifelt. Gott weiß, du hast ja lange genug gebraucht, um deine Entscheidung zu treffen! Ich kann jetzt nur sehr wenig zu all dem sagen, außer dass ich hoffe, dass du eines Tages anders empfindest. Was mich jedoch verletzt – was mir wirklich zu schaffen macht – ist, dass du es für angebracht erachtest, dich darüber bei einer vollkommen fremden Person zu beklagen.«
Meine Wangen glühten puterrot. »Ich habe mich nicht beklagt, Arthur. Es gibt nichts, worüber ich mich zu beklagen hätte. Die junge Dame war verzweifelt über ihre eigene Lage. Ich habe nur gesagt …«
»Du hast gesagt, du würdest mit mir keiner großartigen Zukunft entgegensehen – und damit hast du recht.«
»Das war falsch von mir. Ich hätte das nicht sagen oder auch nur denken dürfen. Es tut mir so
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