Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
gesehen?«
»Unseren Arthur? Ja, das hab ich!«, sagte Agnes in liebevollem Ton, während sie meine Kissen aufschüttelte und mir half, mich im Bett aufzusetzen. »Früh aufgestanden ist er und immer vor Ihrer Zimmertür herumgestrichen und hat sich große Sorgen gemacht um Sie. Ihr Gatte ist ein guter Mann, wenn ich das mal sagen darf, Mrs. Nicholls. Ich kenne ihn seit dem Tag, an dem er hierherkam – er war so ein lieber kleiner Kerl –, hat immer geschaut, wie er anderen helfen konnte, wollte stets brav sein und Gutes tun. Von da bis heute habe ich nie gehört, dass er sich beschwert hätte, dass er was Böses über jemanden gesagt oder irgendwann einmal nicht die Wahrheit gesprochen hat. Das findet man bei einem Jungen – oder einem Mann – nicht so oft. Ich sag Ihnen eines, Madam, Sie haben großes Glück, Sie haben einen der besten Gentlemen im ganzen Land geheiratet.«
Agnes sprach dieses Lob mit so tiefer Zuneigung und so viel Respekt aus, dass mir Tränen in die Augen traten. Ehe ich jedoch irgendetwas erwidern konnte, stellte mir die Gute schon das Tablett auf den Schoß und fuhr fort: »Ah! Aber Sie wollten wissen, wo Arthur ist, nicht wahr! Und ich plappere hier fröhlich allerlei Zeug! Nun, Madam, er ist vor Ihrer Zimmertür herumgestrichen, wie ich schon gesagt habe, und das hat die Herrin ein wenig nervös gemacht, und also hat sie zu ihm gesagt: ›Arthur, auf keinen Fall wird deine liebe Frau heute das Krankenlager verlassen. Sie braucht einen Tag Ruhe und ordentliche Pflege. Mach also, dass du fortkommst‹, hat sie gesagt. Und nach viel Grummeln und Gejammere hat sie ihn schließlich überredet, mit seinen Vetternund Cousinen und ihren Freunden zu einem Picknick aufzubrechen.«
»Oh! Er ist fortgegangen? Meinen Sie, er bleibt lange weg?«
»Nun, Madam, die jungen Leute fahren so gern auf den Shannon hinaus – hier hat jeder ein Boot, oder man kann eines mieten oder ausleihen –, und das Wetter ist so schön in dieser Jahreszeit, da denke ich, dass sie erst zum Abendessen wiederkommen.«
Ich dankte ihr und war sehr enttäuscht. Agnes legte noch Torf aufs Feuer und verließ dann das Zimmer.
Ich aß mein Frühstück in vollkommener Stille und mit recht geringem Appetit. Nicht lange nachdem man das Tablett wieder abgeholt hatte, kam Mrs. Bell zu mir herein. Den ganzen Tag über kümmerte sich diese liebe Dame mit Freundlichkeit und Geschick um mich und ließ mir dazwischen Zeit zum Ausruhen. Als ich später wieder einmal vom Schlaf erwachte, zog sie ihren Stuhl neben mein Bett, griff nach ihrer Handarbeit und war bereit für ein Schwätzchen.
»Ich habe Arthur versprochen, gut auf Sie aufzupassen und alles zu tun, damit es Ihnen besser geht. Sie sind mir jetzt schon lieb und wert, wissen Sie, weil Sie die Frau unseres Arthurs sind. Und natürlich habe ich in meinem Herzen ein Schwäche für alles Englische. Ich bin zwar in Dublin geboren, aber in London zur Schule gegangen.«
»Das erklärt es: Ihre Sprache klang in meinen Ohren so englisch.«
»Ich bin allerdings nicht lange in Ihrem Land gewesen, wenn ich ehrlich bin, und ich war damals noch ein sehr kleines Mädchen. Aber es hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Sie müssen wissen, mein Vater dachte, es wäre für mich von Vorteil, wenn ich wie eine richtige Dame meine Bildung in einer englischen Schule erhielte. Also brachte ermich dorthin und wollte mich auch dalassen. Aber nach nur drei Wochen kehrte er zurück, um mich wieder nach Hause zu holen, weil er das Leben ohne mich unerträglich fand. In diesen drei Wochen hatte ich jedoch feinstes Englisch gelernt, habe London nach Wellingtons Sieg in der Schlacht bei Waterloo erleuchtet gesehen …«
»Nach Wellingtons Sieg! Wie aufregend!«
»Und ich habe die Königin gesehen.«
»Die Königin?«
»Sie kam in unsere Schule, um ein Mädchen zu besuchen, das ihr Interesse erregt hatte. Man sagte ihr: ›Wir haben ein kleines irisches Mädchen hier.‹ Man hielt mich anscheinend für eine Art Sehenswürdigkeit, und so brachte man mich nach unten, um mich ihr vorzustellen. Sie war eine kleine alte Dame – merkwürdig, aber sie hieß auch Charlotte.«
Ich lachte entzückt und fragte mich wehmütig: Wäre es so gewesen, eine Mutter zu haben? Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann zum letzten Mal jemand an meinem Krankenbett gesessen hatte. Es war ein seltsames und wunderbares Gefühl, als wäre ich wieder ein kleines Kind.
Mrs. Bell und ich unterhielten uns den
Weitere Kostenlose Bücher