Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
geschneit hat«, erklärte Susan unter Tränen, »haben Mama und ich vom Fenster aus zusammen zugeschaut. Oder wenn es spät abends war und der Sturm wütend tobte, hat sie sich auf meine Bettkante gesetzt und mir eine Geschichte erzählt. Oh, ich bin so weit weg von zu Hause! Meine Mama fehlt mir so!«
»Wir alle vermissen unsere Mütter«, erwiderte Leah Brooke ärgerlich aus ihrem Bett, »aber es hat keinen Sinn, sich so aufzuführen.«
»Ich habe ihr angeboten, dass ich ein Buch aus dem Schulzimmer hole und ihr etwas vorlese«, sagte Hannah mit einem beleidigten Schniefen, »aber der Vorschlag hat ihr gar nicht gefallen.«
»Da möchte ich lieber die Kreide über die Tafel kreischen hören«, jammerte Susan, »als deine jämmerlichen Versuche, etwas vorzulesen.«
Ich hatte Hannah schon im Unterricht laut lesen hören und konnte Susans Einschätzung von Hannahs Fertigkeiten nur zustimmen. Ohne zu überlegen, platzte ich heraus: »Ich könnte dir eine Geschichte erzählen.« Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, da wünschte ich, ich hätte sie ungesagt machen können. Alle wandten sich mit plötzlichem Interesse mir zu; meine Wangen glühten. Rasch fügte ich hinzu: »Mein Bruder, meine Schwestern und ich, wir haben ständig Geschichten erfunden, um einander damit zu unterhalten.«
»Wirklich?«, fragte Susan, während sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischte. »Sind es gute Geschichten?«
»Das musst du beurteilen.«
»Nun, dann fang an.« Susan lehnte sich ans Kopfende ihres Bettes, strich die Decke glatt und machte Platz für mich. »Erzähle mir eine.«
Es kribbelte mir im Magen, als ich mich hinsetzte. Ich schaute zu den anderen. »Soll ich?«
»Mir ist es einerlei, wenn sie nur mit dem Jammern aufhört«, erwiderte Hannah, und ihre Schwester nickte zustimmend.
»Das ist doch albern!«, höhnte Amelia. »Wir sind doch viel zu alt für Gutenachtgeschichten!«
»Du kannst ja gehen, wenn du nicht zuhören möchtest«, sagte Ellen und kuschelte sich neben Maria Brooke.
Amelia zögerte und ließ sich dann widerwillig auf einem Stuhl in der Nähe nieder. Plötzlich tauchten noch unsere drei anderen Schulkameradinnen im Zimmer auf. »Was geht denn hier vor?«, fragte Mary Taylor, die in eine Steppdecke gehüllt war und (wie die meisten von uns) ihr dunkles Haar für die Nacht in Papilloten hochgesteckt hatte.
»Charlotte erzählt uns eine Geschichte«, antwortete Hannah.
»Oh, wie wunderbar!« Mary breitete ihre Steppdecke auf dem Boden aus und setzte sich hin. Cecilia Allison und Marys ausgelassene jüngere Schwester Martha gesellten sich zu ihr. Martha rief: »Ich liebe Geschichten!«
Mein Herz begann ängstlich zu pochen. Was hatte mich bloß dazu gebracht, so unbedacht zu reden? Die Geschichten, die meine Geschwister und ich erfunden hatten, während wir über das Moor wanderten oder abends um das Kaminfeuer saßen, waren unsere persönlichen Geschichten, die wir uns zu unserer eigenen Unterhaltung ausgedacht hatten; wir hatten sie nie mit jemand anderem geteilt. Die Mädchen schauten mich erwartungsvoll an; wenn mir jetzt keine Geschichte einfiele, die ihr Interesse weckte, dann würden sie mir das niemals vergessen. Am besten wäre es, beschloss ich, wenn ich eine völlig neue Geschichte erfände, die dem Geschmack dieses Publikums entspräche. Ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen, und dann begann ich mit leiser, dramatischer Stimme zu sprechen.
»Vor langer, langer Zeit lebte einmal in einem fernen Königreich ein verwitweter Herzog mit seiner einzigen Tochter in einem großen Schloss mit unzähligen Türmen, das auf einer steil aufragenden Klippe hoch über dem Meer thronte.Die junge Dame hieß Emily. Sie war achtzehn Jahre alt. Keine wilde Rose, die in der Einsamkeit blüht, hätte es an Schönheit mit dieser zarten Pflanze des Waldes aufnehmen können.«
Atemlose Stille hatte sich über den Raum gesenkt. Alle hörten voller Interesse zu, bemerkte ich, außer Amelia. Ich fuhr fort: »Emily war nicht nur wunderschön, sondern auch äußerst begabt. Sie könnte Harfe spielen, sie konnte drei Sprachen sprechen und lesen, sie war eine begabte Zeichnerin und schrieb entzückende Gedichte, und sie war dafür bekannt, dass sie bei jedem Wetter viele Meilen gehen würde, um einer bedürftigen Familie zu helfen.«
»Sie klingt zu gut, um wahr zu sein«, wandte Amelia verächtlich ein.
»Ach, sei doch ruhig«, rief Susan. Und an mich gerichtet: »Bitte sprich weiter.«
»Emilys Güte,
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